Die fundierte Arbeit, die in dem alten Palais im Schatten der Minoritenkirche geleistet wird, bleibt niemals ohne Folgen. Zwar setzt sie sich selten in unmittelbare oder gar spektakuläre Wirkungen um, aber man kann guten Gewissens behaupten, daß die österreichische Politik in zunehmendem Maße von den Überlegungen, Folgerungen, Hinweisen, Empfehlungen und Erkenntnissen des Interministeriellen Komitees für Sonderfragen durchsickert wird.
BEGINN DES DRITTEN HAUPTKAPITELS
IN DEM SICH DAS INTERMINISTERIELLE KOMITEE MIT EINER INTERESSANTEN AUFGABE BESCHÄFTIGT
Tuzzi hatte die grünen Jalousien heruntergelassen, nicht so sehr der ohnehin kaum sichtbaren Sonne wegen, sondern weil das solcherart gefilterte Licht die Illusion der Kühle erweckte; die Post war erledigt, teils mit Notizen für ein späteres Diktat versehen (hoffentlich tauchte die Schreibdame auf, ehe der Briefstoß zu groß wurde), teils in den Papierkorb gewandert.
Eben als der Legationsrat auf die Uhr sehen wollte, klopfte es diskret an der Tür. Herein trat der Amtsgehilfe Brauneis und legte ein Aktenpaket, das fast so hoch wie lang war, auf Tuzzis Schreibtisch.
»Die Akten von Herrn Ministerialrat Twaroch, bitte schön.«
»Na dank’ schön«, murmelte Tuzzi und blickte erschrocken auf diesen Berg Twarochschen Arbeitseifers, der noch umfangreicher war, als er ohnehin befürchtet hatte.
»Der Herr Legationsrat müssen in die Kleine Sitzung«, sagte Brauneis mit sanfter Mahnung. »Es ist halber elfe.«
Tuzzi erhob sich. In der sogenannten Kleinen Sitzung – »klein« deshalb, weil an ihr ausschließlich die Spitzenbeamten des Interministeriellen Komitees teilnahmen – kulminierte der Tagesablauf. Ihr beizuwohnen war unumgänglich und somit ein hinreichender Grund, die Twarochschen Akten bis auf weiteres liegenzulassen.
»Wenn’s dem Herrn Legationsrat recht ist«, sagte der Amtsgehilfe Brauneis, »räum’ ich derweil dem Herrn Legationsrat sein Zimmer ein bißl auf. Die Bedienerin ist nämlich schon wieder im Krankenstand.«
Tuzzi, der seine Mitmenschen im allgemeinen eher hochals geringschätzte, mochte den untersetzten älteren Mann nicht besonders, ja verspürte sogar einen leichten Widerwillen gegen ihn, obwohl er nicht recht hätte sagen können, was an Brauneis ihm eigentlich so unangenehm war – die überaus hellen Augen vielleicht und ihr etwas starrer Blick oder diese etwas übertriebene, für einen Beamten so niederen Ranges fast schon unnatürliche Beflissenheit. Aber obwohl er sogar den leisen Verdacht hatte, daß Brauneis gelegentlich in den Akten herumstöberte, deren Inhalt ihn nichts anging, genierte sich der Legationsrat doch auch wieder wegen seiner Abneigung, weshalb er dem Amtsgehilfen Brauneis für die gezeigte Bereitwilligkeit herzlich dankte, ehe er seinen Schreibtisch verließ.
Im sogenannten Kleinen Sitzungssaal – einen größeren gab es übrigens im Hause nicht – waren zwischen josephinischen Möbeln, rosa Seidentapeten und unter dem Ölbild einer leicht irrsinnig wirkenden Kaiserin Elisabeth (von Anton Romako) bereits versammelt: der Ministerialrat Haberditzl, dem Komitee zugeteilt vom Innenministerium; der Ministerialsekretär Skalnitzky (Unterrichtsministerium); der Sektionsrat Tuppy (Sozialministerium); der Ministerialkommissär Dr. Benkö (Bundesministerium für Wissenschaft und Forschung); und der Ministerialoberkommissär Goldemund (Verkehrsministerium).
Der Legationsrat Erster Klasse Dr. Tuzzi (zugeteilt vom Bundesministerium für Auswärtige Angelegenheiten) begrüßte die anwesenden Herren, bedauerte die durch Krankheit verursachte Abwesenheit des Ministerialrats Twaroch (Ministerium für Gesundheit und Umweltschutz), was mitfühlendes Kopfnicken hervorrief, sowie die durch die gleiche Ursache verschuldete Absenz des Legationssekretärs Trotta, was allgemeines Lächeln bewirkte.
Sodann erklärte Dr. Tuzzi die heutige Sitzung des Interministeriellen Komitees für Sonderfragen für eröffnet.
IM DRITTEN
ZWISCHENKAPITEL
WERDEN DIE VERANTWORTLICHKEITEN
INNERHALB DES KOMITEES AM BEISPIEL
DER DORT VERWENDETEN GRUSSFORMELN
ERLÄUTERT.
ÖSTERREICHISCHE LESER KÖNNEN DIESES
ZWISCHENKAPITEL ÜBERBLÄTTERN, WEIL
SIE AUS IHM NICHTS WESENTLICH NEUES
ERFAHREN WERDEN; NICHTÖSTERREICHISCHE
LESER SOLLTEN DIE LEKTÜRE ZWAR WAGEN,
ABER NICHT HOFFEN, SIE AUCH ZU BEGREIFEN.
Selbstverständlich darf das, was wir vorher über Struktur und Arbeitsweise des Interministeriellen Komitees für Sonderfragen ausführten, nicht so verstanden werden, als ob in ihm ein anarchisches Durcheinander herrsche und jeder der zugeteilten Herren für sich allein arbeitend (oder nicht arbeitend) das täte, was ihm gerade ein- oder zufiele. Dem ist nicht so. Beamte haben es dort mit Beamten zu tun und infolgedessen Dienstränge mit Diensträngen, Arbeitsbereiche mit Arbeitsbereichen – und da stellen sich denn sehr bald die entsprechenden Ein-, Zu- und Unterordnungen ein, ohne die ordentliche Beamtenarbeit schwerlich geleistet werden kann.
Freilich handelt es sich hier um eine Ordnung der Nuancen und scheinbaren Unwägbarkeiten, in der, anders als in den meisten Ämtern, auch Persönlichkeit eine unklare, aber bedeutende Rolle spielt.
Ihren Ausdruck und ihre dauernde Bestätigung findet diese Ordnung in der Art und Weise, wie die Beamten einander grüßen.
In Österreich (und in dessen Ämtern ganz besonders) ist nämlich im Laufe der Jahrhunderte das Grüßen und Grußerwidern zu einer Methode entwickelt worden, deren äußerst verfeinerte Anwendung es zwei einander begegnenden Individuen erlaubt, die gesellschaftliche, ökonomische, soziale und private Position des einen in bezug auf den jeweils anderen genauestens festzulegen. So gleicht jede Begegnung zweier Persönlichkeiten dem Anfang eines Florettgefechts, in dem die Gegner einander mit ein paar schnellen Attacken, Finten und Paraden auf ihre Stärke und Wertigkeit hin prüfen. Wie auf jedem anderen Gebiet tummeln sich auch auf diesem Pfuscher, solide Handwerker und wahre Könner. Und da es im Interministeriellen Komitee hauptsächlich Könner gibt, kann man dessen innere Struktur in der Tat an den Begrüßungen, die zum Beispiel eben jetzt am Beginn der Kleinen Sitzung zahlreich geäußert wurden, mit geradezu kristallischer Klarheit ablesen.
Die Tendenz, den Legationsrat Tuzzi zu begrüßen, ehe man von ihm begrüßt wurde, war allgemein vorherrschend (vgl. auch die bereits stattgehabten Begrüßungen durch den Portier Karneval, den Ministerialrat Haberditzl und den Amtsgehilfen Brauneis).
Der Ministerialsekretär Skalnitzky zum Beispiel grüßte Tuzzi mit »Meine Reverenz, Herr Legationsrat«, einer etwas ausgefallenen, aber sehr ausgewogenen Formel, die der persönlichen Manieriertheit sowie dem Arbeitsbereich Skalnitzkys (»Die österreichische Literatur und ihr Einfluß auf das Seiende«) jedoch durchaus angepaßt war. Dr. Tuzzi würdigte diese Anrede mit einem korrekten »Guten Morgen, Dr. Skalnitzky, wie geht es Ihnen?« und wandte sich dann dem Sektionsrat Tuppy mit einem »Grüß dich Gott, Herr Sektionsrat« zu, ehe noch Tuppy sein übliches »Respekt, Herr Legationsrat, du schaust ja blendend ausheute!« anbringen konnte; diese beiden Anreden hielten ebenfalls maximale Balance, denn privat waren die beiden Herren ziemlich befreundet, dienstlich aber rangierte der Sektionsrat eine Stufe tiefer als der allerdings etwas jüngere Legationsrat. Tuzzi schätzte ihn