»Keine Sorge. Daniel hat einen Kollegen zu meiner Überwachung abgestellt.«
Elena war nicht überzeugt. Wenn es um ihre Arbeit ging, war Fee immer sehr erfinderisch.
»Und wen, wenn ich fragen darf?«
»Dr. Gruber.« Felicitas drehte sich zu Benjamin um, der gerade des Weges kam.
»Sie habe ich gesucht!« Er trat zu den Kollegen. »Was ist? Warum schauen Sie mich so an?« Er fuhr sich mit der Hand durch das Haar.
»Stimmt es, dass Sie auf Fee aufpassen sollen?«, fragte Elena spitz.
In Erwartung eines Vorwurfs hob Benjamin abwehrend die Hände.
»Auftrag vom Chef persönlich. Ich kann nichts dafür.«
»Habe ich es euch nicht gesagt?«, frohlockte Fee.
Elena entspannte sich.
»Na schön. Dann bringen wir zwei Hübschen Herrn Lichte jetzt zurück auf die Intensiv. Und Sie«, sie sah hinüber zu Benjamin, »achten darauf, dass Felicitas auch wirklich nach Hause geht.«
»Ich werde jeden ihrer Schritte bewachen.« Er hob die Hand zum Schwur.
»Bis ins Badezimmer müssen Sie ihr nicht folgen«, wies Matthias Weigand den Assistenzarzt zurecht.
Sein Lachen hallte noch über den Flur, als die beiden mit ihrem Patienten um die Ecke verschwunden waren.
»Tut mir wirklich leid, dass ich Sie zum Gespött aller mache«, entschuldigte sich Benjamin mit glühend roten Wangen. »Heute ist wirklich nicht mein Tag.«
Es fehlte nicht viel, und Fee hätte ihn in die Arme geschlossen und getröstet.
»Machen Sie sich nichts draus. Dafür habe ich zum Schluss noch eine gute Nachricht für Sie.« Seite an Seite wanderten sie weiter.
Benjamin zog eine Augenbraue hoch. »Ach ja? Und welche?«
»Dass Sie aller Wahrscheinlichkeit nach weder unter Migräne, noch unter einem Glaukom oder gar einem Gehirntumor leiden.«
Die zweite Augenbraue folgte.
»Nicht?«
Fee schüttelte vorsichtig den Kopf, bedacht darauf, ihn nicht noch mehr in Aufruhr zu versetzen.
»Nach allem, was Sie mir so erzählt haben, bin ich zu dem Schluss gekommen, dass Ihr Flimmerskotom stressbedingt ist.«
»Stress?«, wiederholte Benjamin ungläubig.
»Ich habe mich in der aktuellen Literatur schlau gemacht«, fuhr Fee fort. »So wird unter anderem beschrieben, dass es im Zusammenhang mit physischer beziehungsweise psychischer Überlastung häufiger zum Augenflimmern kommt. Dazu passt, dass Sie das Flimmern vorzugsweise im OP haben.« Sie seufzte. »Offenbar sind Sie zu emotional.« Manchmal war es wie verhext. Was der eine zu viel hatte, fehlte dem anderen. »Dabei ist Empathie prinzipiell eine herausragende Eigenschaft, besonders im Arztberuf.«
Benjamin Gruber hatte die Hände auf dem Rücken verschränkt. Er starrte auf den Boden vor seinen Füßen, als hätte er Angst zu stolpern. Oder suchte er dort nach einer Lösung für sein Problem?
»Viele meiner Mitstudenten hatten damals besondere Schwierigkeiten mit dem Leidensweg psychiatrischer Patienten. Sie konnten sich besser abgrenzen von somatischen Krankheiten wie zum Beispiel Krebs oder Herzkrankheiten.« Seine Stimme wurde leiser. »Bei mir war es eigentlich eher umgekehrt. Ist es bis heute. Schwere körperliche Krankheiten machen mir furchtbar zu schaffen.«
Bis zum heutigen Tag hatte er sich diese Tatsache nicht eingestanden. Doch plötzlich war es sonnenklar. Lag das an Fee Norden? An ihrem Talent, mit ihm zu sprechen? In einer Sprache, die er verstand?
»Na, sehen Sie! Dann sind wir doch schon einen großen Schritt weiter.«
Benjamin lächelte verschmitzt.
»Eigentlich wurde ich engagiert, um Ihnen zu helfen und nicht umgekehrt.«
»Sie haben mir mehr geholfen, als Sie denken«, versicherte Fee. Sie waren vor der Notaufnahme angekommen. Die automatischen Türen öffneten sich mit einem lauten Schmatzen. »Zu wissen, dass es Ärzte gibt wie Sie, ist ein großer Trost.« Er ahnte nicht, wie groß.
»Aber wie soll es jetzt mit mir weitergehen?« Benjamin ließ ihr den Vortritt.
»Sie haben Glück.« Fee zwinkerte ihm zu, als sie an ihm vorbei die Ambulanz betrat. »Auf eine Art und Weise sind wir Leidensgenossen. Auch ich soll mich ja möglichst viel entspannen. Deshalb kann ich Ihnen ein paar tolle Techniken beibringen, die mir sehr geholfen haben.«
»Wirklich?« Dr. Grubers Stirn glättete sich langsam.
»Wirklich. Und einen Versuch ist es allemal wert. Obwohl ich mir sicher bin, dass Sie einen tollen Psychologen abgeben würden.« Sie reichte ihm die Hand zum Abschied. »Darum kümmern wir uns morgen. Jetzt muss ich mich bei meinem Mann melden, bevor er sich unnötig Sorgen macht. Ach, da ist er ja schon!«
Doch Daniel erkannte seine Frau in diesem Moment nicht. Kopflos stürzte er an ihr vorbei, dicht gefolgt von Natascha Lichte, und verließ die Notaufnahme.
»Oh!« Fee sah den beiden verdutzt nach.
Benjamin Gruber reagierte sofort.
»Darf ich Sie nach Hause begleiten?«, wandte er sich an seine mütterliche Freundin und bot ihr galant den Arm. »Immerhin bin ich ihr offiziell bestellter Aufpasser.«
*
Minuten vorher hatten Schwester Elena und Dr. Weigand das Bett ihres Patienten wieder an seinen Platz im Intensivzimmer gestellt. Nachdem die Geräte angeschlossen waren und sie sich versichert hatten, dass alles in Ordnung war, hatten sie sich zurückgezogen. Tobias Lichte war allein zurückgeblieben. Die Überwachungsgeräte hatten gepiept. Das Licht war gedimmt gewesen. Eigentlich hätte er sich entspannen können. Er war in Sicherheit gewesen. Und doch hatte er sich ganz und gar nicht wohl gefühlt in seiner Haut. Der Ausflug schien ihm nicht bekommen zu sein. Kalter Schweiß stand ihm auf der Stirn. Er fror. Gleichzeitig war ihm heiß. Und dann diese Übelkeit. Von Atemzug zu Atemzug wurde es schlimmer. Lange würde es nicht mehr gut gehen. Er hob den Kopf und sah sich um. Weit und breit kein Gefäß, das für seine Zwecke geeignet war. Seine zitternde Hand suchte den Notknopf. Ein rotes Licht blinkte. Tobias keuchte und schluckte. Keuchte und schluckte. Es schien eine Ewigkeit vergangen, bis er endlich Schritte hörte. Eine Schwester trat an sein Bett.
»Herr Lichte …« Weiter kam sie nicht.
Eine eiskalte Hand packte ihren Arm. Um ein Haar hätte sie laut aufgeschrien.
»Eine Schüssel. Mir ist schlecht«, krächzte Tobias mit letzter Kraft, ehe sein Kopf zur Seite sackte.
Die Geräte schlugen Alarm.
Schwester Miriam hatte sofort reagiert. Wenige Atemzüge später trommelten Schritte über den Flur. Daniel Norden stürzte ins Zimmer. Natascha Lichte folgte ihm auf den Fersen.
»Was ist passiert?« Ohne die Schwester eines Blickes zu würdigen, kümmerte sich Dr. Norden sofort um den Patienten.
»Er sagte, dass ihm schlecht sei. Dann ist er ohnmächtig geworden.«
»Wahrscheinlich der Blinddarm«, mutmaßte Daniel.
Natascha rang die Hände. Ihre Knöchel traten weiß hervor.
»Stirbt er?« Ihre Stimme versagte.
»Nicht, wenn Sie einer Notoperation zustimmen. Andernfalls kann ich für nichts garantieren.« Er durchbohrte sie mit Blicken. Warum sagte sie nichts? Jede Sekunde zählte. »Jetzt liegt es an Ihnen.«
Natascha starrte zurück. Doch sie sah den Klinikchef nicht. Sie sah ihren Vater auf dem Sterbebett. Sah auch die gerötete, von geplatzten Äderchen durchzogene Nase. Seinen Bauch, der sich unter der Decke wölbte. Mit erschreckender Klarheit erkannte sie: Er war selbst für