»Auf ein Wort, Chef!« Eine Stimme hinter ihm bestätigte seine Vorahnung. Wenn das mit dem Klinikleiter nicht mehr klappt, werde ich Wahrsager!, ging es ihm durch den Kopf, während er auf den Kollegen Lammers wartete.
»Was kann ich für Sie tun?«
Der Kinderchirurg blieb vor ihm stehen. Er gab vor, Atem zu schöpfen. In Wahrheit wollte er Zeit gewinnen. Die Spannung steigern.
»Ich habe mit dem Direktor der Schön-Klinik in Hannover gesprochen.« Ob Norden die Lüge wohl schlucken würde? »Er hat mir ein Angebot gemacht.«
Daniel versuchte, sich den Schrecken nicht anmerken zu lassen. Gute Ärzte waren das Kapital jeder Klinik. Er konnte es sich nicht leisten, einen von ihnen zu verlieren. Schon gar nicht einen von Lammers’ Kaliber. Viele Kollegen und Patienten beklagten sich über seine nur in Ansätzen vorhandene emotionale Intelligenz. Sein außerordentliches Können im medizinischen Bereich sprach allerdings für sich. Es war der einzige Grund, warum Daniel Norden ihn unbedingt an der Klinik halten wollte.
»Was für ein Angebot denn?«, fragte er vorsichtig.
Die Haut um Volker Lammers’ Augen kräuselte sich, seine Mundwinkel kletterten hoch. Der Fisch hatte angebissen.
»Mein Typ ist gefragt. Er hat mir einen Chefarztposten angeboten.«
Dr. Norden kannte den Kollegen aus Hannover nicht.
»Er will Sie abwerben?«
Lammers schnalzte mit der Zunge.
»Was für ein böses Wort! Sagen wir lieber, er hat von meinen Fähigkeiten gehört und ist voll und ganz überzeugt von mir.«
»Und die Konditionen?«
»Beeindruckend.«
Daniel Norden nahm Lammers ins Visier und zählte eins und eins zusammen.
Bestimmt hatte er schon bemerkt, dass Fee zurück und damit seine Hoffnungen auf den Chefposten der Pädiatrie ein weiteres Mal geplatzt waren. Ganz sicher war er allerdings nicht. Trotzdem wagte er das Pokerspiel.
»Sie bluffen«, sagte er dem Kinderchirurgen auf den Kopf zu.
Täuschte er sich, oder wurde Volkers Lächeln eine Spur blasser?
»Meinetwegen können wir es gern auf einen Versuch ankommen lassen.«
Verdammt! Lammers wirkte sehr selbstsicher. Daniel beschloss, alles auf eine Karte zu setzen.
»Es geht Ihnen um den Chefarztposten, nicht wahr?«
Der Ausdruck auf Volkers Gesicht war Bestätigung genug.
»Sind wir mal ehrlich: Ihre Frau hatte einen Herzinfarkt. Und eine schwere Kopfverletzung. Glauben Sie wirklich, sie ist den Aufgaben und Belastungen, die dieser verantwortungsvolle Posten mit sich bringt, noch länger gewachsen?« Seite an Seite wanderten die beiden den Flur entlang. Lammers schickte seinem Chef einen Seitenblick. Die Gelegenheit für diesen Vorstoß war mehr als günstig. Das wussten sie beide.
In der Tat hatte Volker einen wunden Punkt getroffen. Am liebsten hätte Daniel seine Frau vier Wochen in Reha geschickt und ihr anschließend einen Teilzeitjob an der Klinik verpasst.
Reines Wunschdenken, wie er wusste.
»Warum besprechen Sie das nicht direkt mit meiner Frau?«
Lammers lachte kalt.
»Sie hätten die gute Fee mal erleben sollen heute. Versucht, mir dauernd Vorschriften zu machen. Redet mir in meine Behandlungen rein und steht nicht hinter mir. Wie soll ich da vernünftig mit ihr sprechen?«
Dr. Norden wusste, wie er diese Beschwerde zu bewerten hatte. Einen Funken Wahrheit enthielt sie aber dennoch. Lammers ahnte, dass seine Chancen diesmal besser standen als bisher.
»Sie wollen doch, dass ich mich weiterhin hier wohlfühle«, fügte er hinzu.
Nur mit Mühe gelang es Daniel, ein Seufzen zu unterdrücken.
»Ich werde sehen, was ich tun kann.« Sie waren am Ende des Flurs angelangt. Selten hatte sich Daniel mehr darüber gefreut, dass sich ihre Wege trennten.
*
Nach dem Besuch bei ihrem Mann hatte Natascha endlich die Ruhe, um mit ihrem Agenten zu telefonieren und mit ihm über die Konsequenzen des abgesagten Konzerts zu sprechen. Irgendwann erwachte Tobias wieder. Unfähig, irgendetwas anderes zu tun, griff er nach seinem Handy. Er nutzte die Gunst der Stunde, um sein geliebtes Handyspiel zu spielen. Die Musik unterschied sich deutlich von den übrigen Geräuschen auf der Intensivstation. Sie dudelte bis hinaus auf den Flur. Dr. Benjamin Gruber lächelte erleichtert.
»Sie können ja schon wieder spielen«, stellte er fest und trat an den Geräteturm. Er kontrollierte die Linien und Zahlen, die nervös hin und her sprangen, und regulierte die Laufgeschwindigkeit des Tropfs.
»Es gibt keine bessere Medizin als einen neuen Rundenrekord.« Tobias zwinkerte ihm zu. Sein gespenstisch blasses Gesicht, die Schatten um die Augen straften ihn genauso Lügen wie die Kabel und Schläuche, die von seinem Körper in die Geräte führten.
»Und wie geht es Ihnen wirklich?«
Tobias unterdrückte ein Gähnen. Er ließ das Mobiltelefon sinken.
»Ein bisschen schlapp. Aber es war ja auch mehr als ein Routineblinddarm, wie meine Frau mir erzählt hat.« Er ließ seine Blicke wandern. »Sonst wäre ich wohl kaum hier gelandet.«
»Das kann man wohl sagen.« Die Erinnerung genügte, um Benjamin Gruber erneut den Schweiß auf die Stirn zu treiben. »Als es angefangen hat zu bluten … Ich dachte, ich hätte irgendwas falsch gemacht. Sie können sich nicht vorstellen, welche Angst ich hatte.«
»Da bin ich ja richtig froh, dass nicht Sie den Fehler gemacht haben, sondern meine Aorta.« Tobias schnitt eine Grimasse. »Zum Glück ist ja alles noch einmal gut gegangen. Was meinen Sie? Wann kann ich nach Hause gehen? Meine Frau und ich, wir haben nämlich große Pläne. Kennen Sie das legendäre Autorennen in der Wüste Kaliforniens? Natascha und ich wollen dorthin fliegen.«
»Daraus wird wohl nichts«, platzte Benjamin heraus. »Sie müssen erst Ihren Blinddarm loswerden.« Der Nachhall seiner Worte tanzte noch durch das Zimmer, als er wusste, dass er einen Fehler gemacht hatte.
»Der Blinddarm ist noch drin?« Tobias’ Lichtes Stimme klirrte wie Eis.
Benjamin räusperte sich.
»Als es zu bluten anfing, war Holland in Not. Da hatten wir keine Zeit mehr für den Blinddarm.« Warum hatte er nur nicht den Mund gehalten? Doch nun war das Kind schon in den Brunnen gefallen.
Tobias’ Miene verriet es.
»Sie glauben doch nicht im Ernst, dass ich mich noch einmal unters Messer lege!«
Händeringend suchte Dr. Gruber nach einem Mittel, um seinen Patienten zu beruhigen. Am liebsten hätte er ihm das Handy in die Hand gedrückt und ihm eine neue Runde vorgeschlagen. Doch in diesem Augenblick machte Tobias nicht den Eindruck, als hätte er Lust auf Computerspiele.
»Vielleicht hat die Operation ja auch noch Zeit bis später.« Er fuhr sich über die Augen. Da war es wieder, das Flimmern! Dabei war der nächste OP weit entfernt. Egal. Im Augenblick gab es Wichtigeres, als sich über eine regenbogenfarbene Raute aufzuregen. »Darüber müssen Sie sich mit Dr. Norden unterhalten. Wenn Sie wollen, rufe ich ihn gleich an.« Er zog sein Mobiltelefon aus der Tasche. Seine Hand zitterte wie ein Blatt im Wind.
Doch Tobias Lichte schüttelte den Kopf. Kraftlos lag er im Bett und blinzelte den Assistenzarzt an.
»Schon gut. Er hat Natascha versprochen, noch bei mir vorbei zu schauen. Dann können wir ja über alles reden.« Er gähnte wieder.
Benjamin atmete tief durch und steckte das Telefon zurück in die Tasche. Entwarnung.
»Sie müssen sich keine Sorgen