»Nein, mein Schatz. Das ist es mit Sicherheit nicht, was ich hören will«, sagte er mit Sandpapierstimme. Er legte die Arme um ihre Schultern – wie Kinderschultern und viel zu schmal – und zog sie an sich. »Ich will einfach, dass du glücklich bist.«
Fee zögerte. Endlich legte sie den Kopf an seine Brust.
»Dann hilf mir, Lammers in Schach zu halten. Das hat doch bisher auch ganz gut geklappt.«
*
Ein Kreischen zerriss die liebevolle Stille. Schlagartig pumpte Fees Herz doppelt so viel Blut durch die Adern. Daniel dagegen zuckte nur kurz zusammen. Ein Blick auf den Pieper genügte.
»Tobias Lichte. Verdammt!« Er hauchte Fee einen Kuss auf die Wange.
Im nächsten Augenblick trommelten seine Schritte über den Vinylboden. Auf halbem Weg kam ihm Natascha Lichte entgegen.
»Mein Mann … Er war nicht mehr in seinem Zimmer. Die Schwestern haben keine Ahnung, wo er steckt.« Ihre Stimme klang dumpf durch das Taschentuch. In schwarzen Bächen rann die Wimperntusche über ihre Wangen.
»Weit kann er in seinem Zustand ja nicht sein«, presste Dr. Norden durch die Lippen. Er stürmte in das Intensivzimmer. Die verwaisten Geräte schlugen Alarm. »Ausschalten! Sofort!«, herrschte er eine der Schwestern an, die wie aufgescheuchte Kaninchen durch die Gegend sprangen. Er öffnete und schloss Schränke. Ging auf die Knie, um einen Blick unter das Bett zu werfen. Sah hinter die Tür. Vergeblich. »Das gibt’s doch nicht! Er kann sich doch nicht in Luft aufgelöst haben.«
Daniel rannte zur Tür.
»Wir haben auch schon überall gesucht«, erklärte Schwester Elena mit einem Blick auf ihren Kollegen Weigand. Der fuhr sich mit der Hand durch das blasse Gesicht.
»Die kleinste Anstrengung kann tödlich sein.«
»Ich weiß«, erwiderte Dr. Norden tonlos. Er stand wieder auf dem Flur. Sah von links nach rechts und zurück. Wo sollte er anfangen zu suchen? Gab es überhaupt Hoffnung?
*
»Oh Mist!« Schwester Lisa stand in dicker Strickjacke im Aufenthaltsraum vor den Spinden. Sie hielt einen großen Knopf hoch. »Hast du mal Nadel und Faden?«
Dr. Gruber zog den Reißverschluss seines Anoraks hoch und drehte sich um.
»Nein. Aber in der Chirurgie können Sie dir sicher weiterhelfen.«
»Sehr witzig.« Sie schnitt eine Grimasse und wandte sich mit ihrer Bitte an eine Kollegin.
Benjamin schulterte seine Tasche, wünschte allerseits einen schönen Abend und verließ den Aufenthaltsraum. Er war kaum durch die Tür getreten, als er sich auch schon wieder in Sicherheit brachte. Schwester Elena und Matthias Weigand spurteten vorbei. Er sah den beiden nach und wunderte sich. Mehr aber auch nicht. Der Tag war lang und anstrengend genug gewesen. Und noch war die Ungewissheit nicht vorüber. Er fuhr sich über die Augen und machte sich mit gesenktem Kopf auf den Weg Richtung Ausgang.
Surrend schoben sich die Glastüren vor ihm auf. Kühle Luft schlug ihm entgegen. Sie roch nach Schnee. Benjamin zog den Reißverschluss noch weiter zu und den Hals ein. Er steckte die Hände tief in die Taschen und marschierte los, hinein in die laternenbeschienene Dunkelheit. Kieselsteine knirschten unter seinen Füßen. Sein Atem stand in kleinen Wolken vor seinem Mund. Ein Fahrrad quietschte an ein paar Fußgängern vorbei, die es eilig hatten, nach Hause zu kommen. Ein paar Meter entfernt, verdeckt von Büschen und Sträuchern, rauschte der Verkehr vorbei. Benjamin war der einzige Gast an der Bushaltestelle. Die Straßenlaterne war kaputt. Dunkelheit umgab ihn. Er stellte sich in eine Ecke, zog die Schultern hoch und wartete. Aber was war das? Ein Röcheln und Keuchen in seinem Rücken? Benjamins Nackenhaare richteten sich auf. Er warf einen Blick über die Schulter. Das Geäst neben der Bushaltestelle war dicht. Ein Rascheln. Benjamin schluckte. Hoffentlich kam der Bus bald. Er trat von einem Bein auf das andere. Sah sich immer wieder um. Da! Da war es wieder! Diesmal laut und deutlich. Adrenalin flutete Benjamins Adern. Jeder Muskel spannte sich an. Er zögerte, machte einen Schritt in die Richtung, aus der das Geräusch gekommen war. Vielleicht ein Igel. Die machten doch auch so komische Geräusche, wenn sie in Gefahr waren. Er streckte den Fuß aus. Schob das Gebüsch auseinander. Und schrie auf.
»Ein Fuß. Da liegt ein Fuß«, jammerte er. Sah sich um. Stellte fest, dass er immer noch allein war. Überlegte. Und kam immer wieder zum selben Schluss: Er hatte keine Wahl.
»Hallo! Hören Sie mich?« Benjamin ging in die Knie. Schob das Gebüsch weiter auseinander. Ein Auto fuhr vorbei. Der Scheinwerfer glitt über die Äste. Ein Körper blitzte auf, ein Gesicht, und verschwand wieder in der Dunkelheit.
»Mein Güte! Herr Lichte! Was machen Sie denn hier?«
»Helfen Sie mir hoch. Dann geht es schon wieder«, ächzte Tobias.
Das war leichter gesagt als getan. Schweißperlen standen auf Benjamin Grubers Stirn, und seine Wangen glühten, bis er Tobias endlich in die Vertikale gebracht hatte. Wie ein nasser Sack lehnte er an der Wand der Bushaltestelle. Es war nur eine Frage der Zeit, bis er wieder einknicken würde.
»Sie können von Glück sagen, dass Sie noch nicht tot sind.« Mit zitternden Fingern nestelte Benjamin das Mobiltelefon aus der Hosentasche. Um ein Haar wäre es heruntergefallen. Er brauchte drei Anläufe, um die Nummer der Behnisch-Klinik im Telefonbuch zu finden und zu wählen. Endlich meldete sich die erlösende Stimme.
*
Nachdenklich sah sich Felicitas Norden in ihrem Büro um. Es fiel ihr schwer, sich zu konzentrieren. Hatte sie auch nichts vergessen? Die wichtigsten Telefonate geführt? Alle Briefe verschickt? Die fälligen Rechnungen zur Bezahlung an die Buchhaltung weitergeleitet? Den Computer ausgeschaltet? Endlich drückte sie auf den Knopf der Schreibtischlampe. Dunkelheit umgab sie. Zum Glück stand ihre Tür halb offen. Mit Absicht. Abgekapselte Mitarbeiter oder unzugängliche Kollegen waren ihr ein Gräuel. Offene und eindeutige Kommunikation war ein entscheidendes Kriterium für eine erfolgreiche Zusammenarbeit mit ihren Mitarbeitern. Offenheit in den Fluren gehörte zu ihrer Philosophie, die manchmal, wie in diesem Fall, durchaus auch einen praktischen Sinn hatte. Fee durchquerte den dunklen Raum und gelangte sicher zur Tür. Ihre Schritte hallten über den fast menschenleeren Flur. Als sie an Lammers’ Büro vorbeikam, blieb sie stehen. Natürlich: Seine Tür war geschlossen. Schon wollte sie weitergehen, als sie den Lichtschein bemerkte, der unter der Tür hindurch auf den Gang fiel. Verräterisch. Diesmal überlegte Felicitas nicht lange. Sie klopfte. Trat ein, ohne ein »Herein« abzuwarten.
Lammers saß am Schreibtisch. Beim Anblick seiner Chefin legte er den Kugelschreiber aus der Hand und lehnte sich zurück.
»Ich habe schon auf Sie gewartet.« Er sah auf die Uhr. »Erstaunliches Durchhaltevermögen. Dafür, dass Sie erst heute wieder aus der Versenkung aufgetaucht sind.«
Fee hätte sich lieber die Zunge abgebissen, als ihm zu gestehen, dass ihr Kopf dröhnte vor Kopfschmerzen. Dass sie sich erschöpft fühlte. Dass ihr alles wehtat, allem voran das Herz. Als hätte sie ein LKW angefahren und die Brust erwischt. Ein Aufenthalt in der Reha, wie Daniel ihn vorgeschlagen hatte, umsorgt und gepflegt, das klang wie der ultimative Traumurlaub. Doch der Preis dafür war zu hoch! Sie blieb in der Tür stehen.
»Sie hätten mit mir sprechen müssen. Nicht mit meinem Mann.«
»Ich habe es versucht. Vergeblich, wenn Sie sich recht erinnern.«
»Sie wollten mein Büro besetzen.«
»Ich