Dort saß sie immer noch, als Dr. Gruber den Kopf zur Tür hereinsteckte.
»Ich glaube, wir kennen uns noch nicht persönlich.« Schüchtern wie ein Schuljunge trat er an den Schreibtisch. »Mein Name ist Benjamin Gruber.«
Fee zog eine Augenbraue hoch.
»Ach, einer der Assistenzärzte.«
War es möglich, dass seine Wangen noch mehr brannten als vorher?
»Sie kennen mich?«
Fees Lächeln war verbindlich. Sie wusste sofort, wen sie vor sich hatte.
»Es steht auf Ihrem Namensschild.« Sie lachte. »Außerdem hat mein Mann schon viel von Ihnen erzählt. Nur Mut, Sie schaffen das schon.« Sie blinzelte ihm zu.
Benjamin nickte, hüstelte, räusperte sich.
»Hmmm, ja, bestimmt.« Er hielt das mitgebrachte Blutdruckmessgerät hoch. »Ihr Mann hat mich gebeten, Ihre Gesundheit zu überwachen. Darf ich?«
Felicitas machte keinen Hehl aus ihrer Überraschung. Sollte sie sich ärgern? Im nächsten Moment beschloss sie aber, gerührt zu sein angesichts von Daniels Sorge. Gab es nicht auch ganz andere Ehemänner? Die sich nicht im Mindesten für die Gesundheit ihrer Frau interessierten? Schon gar nicht nach so vielen gemeinsamen Jahren?
»Bitteschön.« Sie zog den Ärmel ihres Pullovers hoch und ließ sich die Manschette um den Oberarm legen.
»Was machen Sie denn da Schönes?«, fragte Benjamin mit einem Blick auf den Laptop beiläufig.
»Ich koordiniere die Termine für nächste Woche.«
»Sie wollen schon wieder Vollzeit arbeiten?« Er setzte das Stethoskop auf die Ohren. Die Pumpe schnaufte, die Manschette um Fees Arm füllte sich mit Luft. Er schob das Bruststück unter die Manschette und sah auf den Manometer. »110 zu 70. Das ist in Ordnung.« Er nahm das Stethoskop wieder ab und sah sie an, wartete auf die Antwort auf seine Frage.
»Auch auf die Gefahr hin, dass Sie mich nicht verstehen werden, aber ich MUSS wieder arbeiten. Sonst laufe ich Gefahr, meine Abteilung zu verlieren. Und das will ich auf keinen Fall riskieren.«
»Ihr Leben sollten Sie dafür aber auch nicht aufs Spiel setzen«, mahnte Benjamin. »Deshalb würde ich mal ein paar der Termine streichen.« Er deutete auf den Bildschirm. »Die Fortbildung hier kann man doch sicher verschieben. Und wie sieht es mit dem Vortrag im Kindergarten aus?«
Felicitas schielte hinüber zum Monitor.
»Ja, Sie haben ja recht«, erwiderte sie gedehnt. »Aber was mache ich dann mit der gewonnenen Zeit? Hier herumsitzen und mich langweilen? Da komme ich nur auf dumme Gedanken.«
Benjamin Gruber nickte. Er steckte das Blutdruckmessgerät in die Tasche. Aber was knisterte da? Er ging der Sache auf den Grund und fand den Ausdruck von Dr. Caspari. Eine Idee kam ihm in den Sinn.
»Könnten Sie mir einen Gefallen tun?«, fragte er schüchtern.
Fees Herz schmolz dahin wie Erdbeereis in der Sonne. Gab es einen Menschen, der diesem Mann eine Bitte abschlagen konnte?
»Um was geht es denn?«
»Das hier sind meine Untersuchungsergebnisse vom Augenarzt.« In knappen Worten berichtete er von seinem Problem.
Felicitas hörte aufmerksam zu.
»Wann genau treten diese Beschwerden denn auf?«, fragte sie.
»Meistens, wenn ich im OP bin. Ich dachte schon an eine Art Allergie gegen irgendein Desinfektionsmittel.« Er sah Fee an, zupfte mit den Zähnen an der Unterlippe. »Oder glauben Sie auch, dass ich einen Gehirntumor habe?«
Fee betrachtete die Werte auf dem Blatt Papier. Langsam schüttelte sie den Kopf.
»Nein. Nein, das glaube ich nicht. Und jetzt erzählen Sie noch einmal ganz genau …«
*
Das EKG piepte gleichmäßig vor sich hin. Wie ein Schmetterling lautlos von Blatt zu Blatt flatterte, huschte die Schwester durch das Intensivzimmer. Sie kontrollierte die Werte auf dem Geräteturm, notierte sie im Krankenblatt, das auf einem Wagen am Fußende des Bettes lag. Sie überprüfte die Medikamentengaben, maß Fieber und verließ mit einem Lächeln in Natascha Lichtes Richtung schließlich das Zimmer.
Kurz darauf wurde Tobias unruhig. Er warf den Kopf im Kissen nach rechts und links. Blinzelte. Stöhnte leise. Wie die Schwester ihr es gezeigt hatte, griff Natascha nach dem Becher auf dem Nachttisch und betupfte Tobias’ rissige Lippen mit einem in Wasser getränkten Wattebausch. Sie wollte weinen vor Erleichterung, als sie seine Stimme hörte.
»Du bist da?«, krächzte er.
Natascha beugte sich über ihn. Ihre Ohrringe schaukelten hin und her.
»Ich war so unruhig. Da habe ich das Konzert abgesagt. Zu Recht.« Sie lächelte.
Tobias’ Blick irrte durch das Intensivzimmer.
»Was … was ist passiert?«
»Du hattest ein Aneurysma im Bauch. Das ist bei der Operation geplatzt. Um ein Haar wärst du verblutet.«
»Ausgeschlossen.« Tobias zog die Mundwinkel hoch. »Mein Schutzengel war ja bei mir.«
»Der Schutzengel heißt Dr. Norden.« Natascha strich ihm eine Strähne aus dem Gesicht. Ihre Blicke streichelten sein Gesicht. »Ich habe ihm Unrecht getan. Mein Misstrauen war nicht gerechtfertigt.«
»Ich bin sicher, er wird dir verzeihen.«
Natascha lächelte.
»Hat er schon. Übrigens hat er versprochen, nachher noch vorbei zu kommen.« Sie nahm die Hand ihres Mannes zwischen die ihren und sah ihn an. »Dann fragen wir ihn, wann du entlassen wirst. Ich habe mir nämlich eine kleine Überraschung für dich ausgedacht.« Tobias’ größter Traum war ein Besuch bei der Baja 1000, einem berühmten Autorennen im Süden Kaliforniens. Bei dem gefährlichsten und härtesten Rennen der Welt maßen die Fahrer von Motorrädern, Trucks und umgebauten Autos ihre Kräfte. »Statt immer nur auf dem Handy deine Runden zu drehen, fliegen wir nach Kalifornien und sehen uns das Ganze live und in Farbe an.«
Wäre Tobias im Vollbesitz seiner körperlichen Kräfte gewesen, hätte er einen Jubelschrei ausgestoßen. Wäre mindestens einen Meter in die Luft gesprungen. Derart lädiert, blieb ihm aber nur ein Lächeln.
»Du bist großartig«, murmelte er und drückte Nataschas Hand. »Aber was ist mit deiner Arbeit?«
Sie beugte sich über ihn, wagte kaum, seine Lippen mit den ihren zu berühren.
»Die kann warten«, raunte sie ihm zu. »Aber unsere Liebe und das Leben nicht.«
*
Wie so oft herrschte auch an diesem frühen Abend reger Betrieb auf dem Klinikflur. Besucher strebten allein, in Pärchen oder Gruppen in Richtung Aufzug, nur wenige Richtung Treppenhaus. Schwestern und Pfleger schoben Essenswagen durch die Flure. Das Klappern von Geschirr vermischte sich mit dem Stimmengewirr. Dr. Daniel Norden hatte sich in das bunte Treiben gemischt. Nachdem er mehrmals aufgehalten worden war – seine Assistentin Andrea Sander hatte eine Unterschrift gebraucht; der Verwaltungsdirektor Dieter Fuchs wollte wieder einmal über Personalfragen diskutieren und eine seiner Patientinnen die Klinik partout nicht verlassen