Handbuch Sozialraumorientierung. Группа авторов. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

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Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Документальная литература
Год издания: 0
isbn: 9783170372405
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      Zur Arbeit an der Verhinderung und Veränderung benachteiligender und menschenunwürdiger Lebensbedingungen bringt sozialraumorientierte Soziale Arbeit ihre Expertise auf den unterschiedlichen Ebenen gesellschaftlicher Organisation ein, indem Sie ihre Analysekompetenz den zuständigen Akteuren zur Verfügung stellt und sie dazu auffordert, ihrer gesellschaftlichen Verantwortung gerecht zu werden, und sozial benachteiligte Menschen dabei unterstützt und ermächtigt, sich für ihre Anliegen einzusetzen und ihre (Menschen- und Bürger*innen-)Rechte einzufordern. Um diesen politischen Auftrag erfüllen zu können, wurden Arbeitsformen und Methoden entwickelt und erprobt, die es Sozialer Arbeit ermöglichen, auf verschiedenen Handlungsebenen in den unterschiedlichen Handlungsfeldern jeweils adäquate fachspezifische Schwerpunkte zu setzen. Diese können sowohl in der parteilichen Arbeit zur Unterstützung der Bevölkerung auf der Quartierebene als auch in der vermittelnden Arbeit intermediärer Instanzen eher in der koordinierenden oder der programmatischen Arbeit innerhalb kommunaler Verwaltung bzw. freier Träger und Verbände liegen. Immer jedoch gilt das Primat der Sozialen Arbeit, sich im Widerstreit der Interessen für die Anliegen der am stärksten benachteiligten und hilfebedürftigen Menschen einzusetzen und in der interdisziplinären Kooperation die Sichtweise Sozialer Arbeit zugunsten einer sozialen und gerechten Gesellschaft prominent zu vertreten.

      Soziale Arbeit erbringt vorwiegend personenbezogene Dienstleistungen, die in der Regel im direkten Kontakt erbracht werden müssen. Dazu bedarf es einer aufsuchenden Gestaltung der Kontaktaufnahme und einer Haltung respektvollen Interesses und Akzeptanz für den Eigensinn der Lebensdeutung und -gestaltung der Menschen, die als Expert*innen für ihre Lebenssituation angesehen werden. Diese Orientierung am Willen, den Fähigkeiten und Möglichkeiten, aber auch an den Grenzen der Leistungsfähigkeit und Belastbarkeit von von sozialen Problemen betroffener Menschen ist nicht gleichzusetzen mit politischen Programmen des aktivierenden Staates, wonach die Bürger*innen zu Aktivität und Selbsthilfe verpflichtet werden, während sich das Staatswesen aus der Verantwortung zurückzieht und die Frage nach Bürger*innenrechten moralisierend zurückweist (vgl. Wohlfahrt u. a. 2003). Denn dabei wird tendenziell außer Acht gelassen, dass auch Engagementpotenziale ungleich verteilt sind und die Verlagerung staatlicher Aufgabenverantwortung auf die Bevölkerung die ungleiche Verteilung sozialer Güter (»Kapitalien« nach Bourdieu 1982) verstärkt bzw. die Einforderung bürgerschaftlicher Verantwortung und Engagement – bis hin zu Sanktionen und Strafe – soziale Benachteiligung verschärft. Im Gegensatz dazu reklamiert das Handlungskonzept SRO die Unterstützung von Menschen mit geringen Engagementpotenzialen und -erfahrungen anstatt deren moralische Verurteilung oder gar Sanktionierung.

      Diese würden ansonsten dreifach benachteiligt:

      • durch die grundlegende strukturell ungleiche Verteilung sozialer Güter zu ihren Ungunsten,

      • durch die Dominanz durchsetzungskräftiger Bürger*innen mit hohem Engagementpotenzial,

      • durch die moralische Verurteilung und Sanktionierung eines Verhaltens als Folge sozialer Benachteiligung.

      Auch Gemeinschaftsideologien eignen sich, trotz ihrer zeitweisen Popularität und unabhängig von ihren konservativen oder sozialrevolutionären Spielarten, nicht als Integrations-Vermittlungs-Konzepte Sozialer Arbeit (Bingel 2011: 215ff.), weil deren Inklusions- und Exklusionsmechanismen soziale Benachteiligung nicht verhindern, sondern eher verschärfen oder festigen (Sennett 1974). Denn sowohl auf gesamtgesellschaftlicher Ebene (Bürger*innenrechte, soziale Gerechtigkeit) als auch auf lokaler Ebene werden durch Gemeinschaftsideologien Interessen eher homogenisiert und Konflikte externalisiert, die dadurch innerhalb der Gemeinschaft nicht mehr ausgetragen oder ausgehandelt werden können (Sennett 2012).

      Die für Soziale Arbeit permanente Herausforderung, trotz der Diskrepanz zwischen anspruchsvollen Zielen und begrenzten Handlungsmöglichkeiten einen wirksamen Beitrag zu gesellschaftlicher Integration leisten zu wollen und zu müssen, kann durch das Handlungskonzept SRO nicht aufgehoben, aber bearbeitet werden. Gesamtgesellschaftliche Problemverursachungen lassen sich auch auf lokaler Ebene analysieren und deren Bewältigungsverantwortung an die jeweilige politische Handlungsebene adressieren. Ausgehend von der Prämisse, dass gesellschaftliche Strukturen und Prozesse gestaltbar sind und die wechselseitigen Verflechtungen (Interdependenzen) menschlicher Beziehungen (Elias 1991; 1976) in sozialräumlichen Kontexten erlebbar und handlungswirksam werden (Elias/Scotson 1965), bietet das Handlungskonzept SRO Möglichkeiten der Bewältigung sozialer Probleme, in dem es die Vielfalt unterschiedlicher Aspekte sozial-räumlicher Kontexte integriert und in Kooperation mit anderen gesellschaftlichen Akteuren, vorwiegend auf lokaler Ebene, bearbeitbar macht.

      Im Folgenden soll Sozialraumorientierung als integratives Handlungskonzept Sozialer Arbeit in seinen Grundzügen dargestellt und erläutert werden. Dabei gilt es integrative Wirkungen zu berücksichtigen, die das Handlungskonzept SRO in Bezug auf interdisziplinäre Vernetzung und Methodenintegration erzielen kann.

      1.5.4 Sozialraumorientierung als integratives Handlungskonzept Sozialer Arbeit

      SRO ist nach Lesart dieses Handbuches per se ein integratives Handlungskonzept, denn es integriert sowohl die unterschiedlichen gesellschaftlichen Aufträge Sozialer Arbeit, der Analyse und Veränderung benachteiligender Bedingungen einerseits und der Hilfe und Unterstützung für benachteiligte und hilfebedürftige Menschen andererseits. Die Arbeit an der Verminderung, Vermeidung und Bewältigung sozialer Probleme, als Gegenstand der Disziplin Soziale Arbeit (Engelke 2004), stellt eine komplexe Aufgabe dar und bedarf daher interdisziplinärer Zusammenarbeit und der Integration unterschiedlicher Disziplinen und Professionen. SRO wirkt hierbei integrativ, weil und wenn sie geprägt ist von einer aufgaben- und zielorientierten Kooperation (vorwiegend) lokaler Akteure.

      Wie in den vorigen Abschnitten bereits erwähnt, beinhaltet das hier beschriebene Handlungskonzept SRO einen Multimethodenansatz. Die konzeptadäquat anwendbaren Methoden und Techniken variieren je nach Bedarf, Zweck und Situation. Sie reichen von Forschungsmethoden (z. B. Sozialstruktur-/Sozialraumanalyse oder aktivierende Befragung) über Methoden der Beratung, Bildungs- und Kulturarbeit (z. B. Mediation, Eltern-/Kind-Bildung oder interkulturelle Begegnung), der Arbeit mit Großgruppen (z. B. »Open Space«, »Worldcafé«, »Zukunftswerkstatt« etc.) bis zu politischer Arbeit zur Veränderung von Lebensbedingungen unter Beteiligung der Bevölkerung (wie Community Organizing, Lobbying, Fundraising) auf unterschiedlichen Ebenen. So gilt Sozialraumanalyse als Methode zur Gewinnung von Erkenntnissen über Strukturen und Prozesse in sozialräumlichen Kontexten, die gleichzeitig als Aktionsforschung zu verstehen und anzuwenden ist, weil die gewonnenen Erkenntnisse jeweils wieder in den Untersuchungsprozess einfließen und damit auch in den Forschungsprozess verändernd eingegriffen wird. Die Auswahl und Anwendung von Methoden im Rahmen des Handlungskonzeptes SRO richtet und unterscheidet sich selbstverständlich auch nach den spezifischen Arbeitszielen und -formen, die je nach Handlungsfeld Sozialer Arbeit sehr unterschiedlich sein können.

      Weil für das Handlungskonzept SRO die Beteiligung der Bevölkerung konstituierend ist, gehören Methoden und Techniken der Partizipationsgestaltung und Engagementförderung zu den wesentlichen Aktivitäten der Fachkräfte Sozialer Arbeit, die ihr Handeln an dem Handlungskonzept SRO ausrichten. Eine dritte Kategorie stellen Methoden und Techniken zur Kooperation und Koordination sowie zur Vernetzung unterschiedlicher Akteure einschließlich der Bevölkerung dar. Eine tabellarische Übersicht von Methoden und Techniken zur Gestaltung von Interventionen entsprechend dem Handlungskonzept SRO findet sich in Becker (2014: 183ff.). Dort sind zahlreiche Methoden und Techniken stichwortartig beschrieben und mit Quellenverweisen versehen, die zu ausführlichen Beschreibungen der Methoden und Techniken führen. Die dort aufgeführten Methoden und Techniken sind den drei o. g. Anwendungszwecken der Erforschung und Entwicklung, der Beteiligung der Bevölkerung und der Vernetzung lokaler Akteure zugeordnet.

      1.5.5 Rechtliche Grundlagen sozialräumlichen Handelns

      Auf europäischer Ebene wurden durch den Maastrichter Vertrag 1992 sowie im Vertrag von Amsterdam 1997 den Kommunen durch die Zusicherung des »Subsidiaritätsprinzips«, Selbstverwaltungsrechte und Gestaltungsfreiheit eingeräumt bzw. zugesichert (Naßmacher 2011). Den Städten und Gemeinden wird in Deutschland gemäß Grundgesetz