Die Umgehung des Referendums von 2005 über das europäische Verfassungsprojekt durch die parlamentarische Ratifizierung des Lissabonner Vertrages hat in Frankreich einen bleibenden Eindruck hinterlassen. Wollte man den Beginn der sich ausbreitenden populistischen Welle bestimmen, wäre sicherlich dieses symbolische Datum zu nennen. Die Betonung des demokratischen Charakters von Volksabstimmungen wurde seither immer wieder der Neigung des parlamentarisch-repräsentativen Systems entgegengehalten, die Volkssouveränität in Beschlag zu nehmen. Elf Jahre später wurde in Großbritannien die Option der Bevölkerung für den Brexit in vergleichbarer Weise mit den gegenteiligen Bestrebungen der Parlamentsmehrheit kontrastiert. In ganz Europa ist ein wachsendes Interesse populistischer Kreise für die Schweizer Verfahren der Volksinitiative und der Volksabstimmung zu verzeichnen, mit denen es Christoph Blochers SVP wiederholt gelungen ist, dem Land seine Debatten aufzuzwingen. Politische Regime wiederum haben in allen Teilen der Welt häufig zum Mittel des Referendums gegriffen, um ihre Legitimität zu stärken sowie, in den meisten Fällen, die Befugnisse der Exekutive zu erweitern. Referenden nehmen somit oft den Charakter von Plebisziten an. Doch diese Frage ist in rechts- wie in linkspopulistische Zirkeln kaum je reflektiert worden, so tief ist bei ihnen die Überzeugung von der demokratischen Mustergültigkeit dieses Verfahrens verankert.
Die polarisierte Demokratie
Die Regierung der Richter – dieser Ausdruck wurde häufig verwendet um zu stigmatisieren, was als Bedrohung empfunden wurde: das Erstarken einer Judikative, die in vielen Demokratien immer unabhängiger geworden ist. Diese Unabhängigkeit wird in besonderem Maße angeprangert, wenn sie sich in einer Rechtsprechung äußert, die das Gesetz durch seine Interpretation präzisiert. »Die Richter sind dazu da, das Gesetz anzuwenden, nicht um es zu erfinden, nicht um dem Willen des Volkes zu hintertreiben, nicht um an die Stelle des Gesetzgebers zu treten. Ein öffentliches Amt darf seinen Inhaber nicht dazu autorisieren, sich eine Macht anzueignen«, schimpfte beispielsweise Marine Le Pen.6 Manche schrecken nicht einmal vor dem Begriff der »Juridiktatur« zurück, um die Unabhängigkeit der Justiz und die erweiterten Kompetenzen des Verfasssungsgerichts in Frankreich zu benennen,7 und betrachten die Rechtsstaatlichkeit als »zentralen Irrtum« der heutigen Demokratien. Der Gegensatz zwischen Recht und Demokratie ist nicht neu. Er wurde in der Amerikanischen und der Französischen Revolution ausgiebig diskutiert und veranlasste die Mitglieder der Constituante dazu, 1790 das Prinzip der Wählbarkeit von Richtern einzuführen (die anschließend wieder aufgehoben wurde, aber das ganze 19. Jahrhundert eine republikanische Forderung blieb). Zahlreiche amerikanische Bundesstaaten instituierten ihrerseits Mechanismen der Richterwahl, ein System, das noch heute in Kraft ist.8 Doch dieser Gegensatz wurde in der populistischen Sicht radikalisiert. Ihr zufolge ist das Mindeste, was man sagen könne, dass die Justiz sich nur auf eine rein funktionelle Legitimität berufen könne, dass ihr demokratischer Status ein sekundärer sei im Vergleich zu dem der Mandatsträger, die den Segen öffentlicher Wahlen erhalten hätten. Man kann in diesem Fall von einer polarisierten Sicht der Legitimität und der demokratischen Institutionen sprechen, bei der die Wahl zugleich als einziges Mittel des demokratischen Ausdrucks fungiert (was zu der Annahme führt, dass Demokratie im Wesentlichen eine Verfahrensregel sei und keine substanzielle Dimension besitze, die beispielsweise die Qualität einer Institution und ihres Funktionierens charakterisiert).
Dieses Demokratieverständnis hat sich in populistischen Regimen vornehmlich in der Gängelung, wenn nicht Abschaffung unabhängiger Behörden geäußert, wofür die Beschneidung des Zuständigkeitsbereichs der Verfasssungsgerichte das eklatanteste Beispiel darstellt. Bis in die Europäische Union hinein, wo die neue ungarische Verfassung von 2011 für Furore sorgte, so stark waren die Befugnisse des Verfassungsgerichts in der von Victor Orbán initiierten und intellektuell gerechtfertigten Neufassung beschnitten. Auf anderem Wege wurde die Unabhängigkeit dieser Institution auch in Polen ernsthaft gefährdet. Ihre heftige Kritik durch die Brüsseler Instanzen war für diese Länder kein Anlass, einen Rückzieher zu machen. Vielmehr verteidigten sie sich damit, auf diese Weise in besonderem Maße der Volkssouveränität zu dienen. Die weitreichenden Kompetenzen, die ihren Verfassungsgerichten im Moment des postkommunistischen Übergangs zuerkannt worden wären, hätten in einer gefestigten Demokratie, in der das Volk wahrhaft souverän geworden sei, keine Berechtigung mehr. Ähnliche Prozesse fanden in Bolivien und Venezuela, sowie in der Türkei und in Russland statt (es sei erwähnt, dass in letzterem Land der Begriff der »souveränen Demokratie« geprägt wurde, um diesen Polarisierungsmechanismus zu benennen9).
Der unmittelbare Ausdruck des Volkes
Schließlich gibt es in populistischer Perspektive ein implizites Verständnis der Evidenz des Gemeinwillens, sobald der Sieg über die Feinde des Volkes einmal errungen ist. Das entspricht der politischen Philosophie von Carl Schmitt. Für Schmitt10 geht das Bekenntnis zur öffentlichen Akklamation als vollendete Form der Demokratie nämlich einher mit einer Kritik an den mit dem Pluralismus des liberalparlamentarischen Ansatzes verbundenen Illusionen. Denn für ihn war das Volk, das sich im Kampf gegen seine Feinde herausbildet, zwangsläufig homogen und einstimmig. Ohne Schmitts Vorstellung von ethnischer Homogenität zu übernehmen, haben seine »populistischen Leser*innen« wie Chantal Mouffe oder Ernesto Laclau doch seine Idee von Einstimmigkeit als regulatorischer Horizont des demokratischen Ausdrucks bewahrt, mit allem, was dies im Hinblick auf die Ablehnung argumentativer und deliberativer Theorien beinhaltet.11 Politische Teilhabe definiert in diesem Rahmen kein aktives Bürgerengagement, das sich auf die Formulierung persönlicher Meinungen und die Konfrontation der Standpunkte gründet, sie verweist vielmehr auf die Tatsache, sich als Teil einer Gemeinschaft zu fühlen.12 Das ist eine Form von Rousseauismus in Verbindung mit Annahmen über die Vorzüge und Potenziale der Volksspontaneität, des gesunden Menschenverstandes der Massen. »Alle Individuen«, äußerte sich Chávez 2007 in typischer Manier, »erliegen Irrtümern und Verlockungen, nicht aber das Volk, das ein enormes Bewusstsein für das eigene Wohl und das Maß seiner Unabhängigkeit besitzt. Deshalb ist sein Urteil aufrichtig, sein Wille stark, und niemand kann es bestechen oder auch nur bedrohen.«13 Eine Sichtweise, die direkt jenen Passagen des Gesellschaftsvertrags entsprungen scheint, die davon ausgehen, dass der Gemeinwille sich nicht irren könne.
Eine solche unmittelbare Demokratie erfordert keine strukturierten politischen Organisationen, die nach dem Prinzip der internen Demokratie funktionieren; sie fördert vielmehr ein Vorgehen, sich zu einem bestehenden politischen Angebot zu bekennen. Interne Demokratie würde nämlich heißen, dass Strömungen existieren, Strategiedebatten, Konkurrenz zwischen Individuen, auf diese Weise sind Parteien üblicherweise strukturiert. Eine Bewegung kann hingegen nur ein kohärentes und zusammengehöriges Ganzes bilden, nach dem Bild des homogenen Volkes, dessen Geburtshelfer und Ausdruck sie sein will. Deshalb befindet sie sich im Einklang mit der neuen Welt der sozialen Netzwerke, in der sich die Kategorie des followers eingebürgert hat, um die typische Art der Beziehung zwischen den Individuen und einem Initiativpunkt zu bezeichnen.
Die Medienkritik, die im Zentrum der populistischen Rhetorik steht, muss im Hinblick auf dieses Unmittelbarkeitsprinzip verstanden werden. Trumps Beschimpfungen der Journalisten, Orbáns Vorwürfe gegen die Gefolgsleute