7Hugo Chávez, Seis discursos del Presidente constitucional de Venezuela, S.47.
8Ernesto Laclau, »Logiques de construction politique et identités populaires«, S.153.
9Ebd., S.156.
10Chantal Mouffe/Iñigo Errejón, Construire un peuple. Pour une radicalisation de la démocratie, S.169.
11Hinsichtlich der Einführung des Führers in ein linkspolitisches Denken kann man sich auf das Werk von Jean-Claude Monod, Qu’est-ce qu’un chef en démocratie? Politiques du charisme, beziehen. Siehe auch das Nachwort zur Neuauflage in der Sammlung »Point« von 2017.
12Die Leser*innen, die diesen Begriff vertiefen möchten, können sich auf die Theorie des Organs im deutschen Staatsrecht Ende des 19. Jahrhunderts beziehen, bzw. die entsprechenden Ausführungen bei Raymond Carré de Malberg in seiner meisterlichen Contribution à la théorie générale de l’État. Im Populismus liegt somit eine implizite Übertragung dieser Theorie des Organs auf die Figur des Führers vor (während Carré de Malberg das Parlament zum Organ einer an sich nicht repräsentierbaren Nation machte).
13Robespierre-Zitat von Jean-Luc Mélenchon in seinem Buch L’Ère du peuple, S.31.
14Wiedergegeben in Lilian Alemagna und Stéphane Alliès, Melenchon à la conquête du peuple, S.410. Die folgenden Zitate sind demselben Werk entnommen.
15Interview in Le 1 Hebdo, Nr. 174, 18. Oktober 2017. Man könnte auch erwähnen, dass er, während der turbulenten Haussuchung in den Räumlichkeiten von La France insoumise am 16. Oktober 2018, nicht vor der Behauptung zurückschreckte: »Die Republik bin ich«, »Meine Person ist heilig« oder: »Ich bin mehr als Jean-Luc Mélenchon, ich bin 7 Millionen Personen« (wiedergegeben in: Le Monde, 19. Oktober 2018).
16Rede vom 22. Juli 2016.
4Eine Wirtschaftspolitik und -philosophie: der Nationalprotektionismus
Die Geschichte moderner Wirtschaften folgte einem langfristigen Trend: dem zur Ausdehnung des Handelsverkehrs auf inländischer wie auf internationaler Ebene. Die zunehmende Spezialisierung von Produktionstätigkeiten und die Kostenvorteile durch Massenproduktion begünstigten also die Ablösung der Wirtschaften von einem bestimmten Territorium und die Bildung eines Weltmarktes. Doch wurden die von dieser Tendenz in Richtung Freihandel erwarteten Vorteile immer wieder hinterfragt. Schon zu Beginn des 19. Jahrhunderts wurde der Optimismus eines Adam Smith oder David Ricardo wegen der Abstraktheit der ihm zugrunde liegenden Vorstellung vom Wohlstand der Nationen kritisiert. In Frankreich, Deutschland und den Vereinigten Staaten stießen deshalb Appelle zur Einführung eines gezielten Protektionismus bei den Regierungen auf offene Ohren, und zwar aus sozialen und politischen ebenso wie aus wirtschaftlichen Gründen. »In Sachen Industrie sind wir Bewahrer und Beschützer«, sagte beispielsweise ein Guizot, führender Vertreter des politischen Liberalismus im Frankreich dieser Tage.1 Er fürchtete in der Tat, dass der Freihandel, wie er sich ausdrückte, »Unruhe in die bestehende Ordnung bringt«, und verteidigte deshalb, mit seinen Freunden, die »nationale Arbeit« gegen die »kosmopolitische Konkurrenz«. In Deutschland veröffentlichte der Wirtschaftswissenschaftler Friedrich List 1841 sein Nationales System der Politischen Ökonomie, das die Zukunft seines Heimatlandes nachhaltig beeinflusste. Er schlug darin die Bildung eines Zollvereins vor, um die politische Einigung des Landes auf Grundlage einer wirtschaftlichen Schutzzone voranzutreiben. Seine Sichtweise hatte nichts Doktrinäres: Protektionismus war für ihn ein umstandsbedingtes Instrument zur »industriellen Erziehung der Nation«2. Das Gleiche galt für Amerika, das in den letzten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts seine ausländischen Importe drosselte, um den Aufschwung seiner verarbeitenden Industrie zu fördern.
Diese Besorgnisse und Vorbeugemaßnahmen bilden seit zwei Jahrhunderten die Grundlage für eine Art ständigen Wechsel zwischen Wellen des Protektionismus und des Freihandels auf nationaler Ebene. Sie stehen immer noch im Mittelpunkt der Debatten, wie die Kontroversen von 2019 über die europäischen Handelsabkommen mit Kanada und dem Mercosur bezeugen oder die wiederkehrenden Fragen, wie man der Unausgewogenheit der Handelsbeziehungen mit China begegnen solle. Doch in all diesen Fällen, vergangenen wie aktuellen, wurde die Frage des richtigen Maßes an Protektionismus zumeist aus pragmatischer Sicht behandelt. Was variierte, war allein die wahrgenommene Dringlichkeit der Frage oder die Art der zu berücksichtigenden Probleme (die ökologischen Kosten eines weltweiten Freihandels haben beispielsweise eine ganz neue Bedeutung angenommen). Die Verteidigung des Protektionismus, die im Zentrum der ökonomischen Betrachtungsweise vieler populistischer Bewegungen steht, ist hingegen von anderer Art. Sie hat eine viel umfassendere Dimension. Sie verweist zugleich auf eine Auffassung von Souveränität und politischem Willen, eine Philosophie der Gleichheit und ein Verständnis von Sicherheit.
Die Rückkehr des politischen Willens
Aus protektionistischer Perspektive wird die Herrschaft des Freihandels und der ihn begleitenden Globalisierung nicht nur im Hinblick auf die wirtschaftliche und soziale Bilanz bewertet, die man aus ihnen ziehen könnte, ob im globalen Rahmen oder an spezifischen Punkten. Sie werden zunächst als Urheber einer Zerstörung des politischen Willens angeprangert. Denn sie gehen mit der Übertragung der Regierungsmacht auf anonyme Mechanismen einher und verabschieden so die Möglichkeit einer souveränen Bestimmung der Völker über ihr Schicksal. Sie entwerfen eine vermeintlich von »objektiven« Regeln regierte Welt, die bereits dem Gedanken an eine Alternative zur bestehenden Ordnung jede Grundlage entzieht.3 Diese Enteignung wird noch verschärft durch den Aufstieg unabhängiger Behörden, die sich überall in ihrem Gefolge ausbreiten. Für die europäischen Populismen erscheint die Europäische Union als Symbol und Labor dieser perversen Vereinnahmung der Volksmacht durch Expert*innenwissen und die unsichtbare Hand des Marktes. Sie veranschaulicht in ihren Augen auf exemplarische Weise die Einführung einer »Regierung durch Zahlen«, die an die Stelle der Ausübung des politischen Willens tritt.4
Diese Kritik bildete die Grundlage für den Erfolg des Brexit-Votums in Großbritannien von 2016, bei dem sich Boris Johnson und Nigel Farage als Vorkämpfer des »Can do« (Man kann es schaffen) durch Wiederherstellung einer aktiven (und wohltuenden) Souveränität des britischen Volkes über sein Schicksal präsentierten. Zwar befürworteten Johnson und Farage auch einen gewissen Liberalismus im Bereich des Außenhandels, doch blieb dieser ganz einer nationalistischen Sicht der Wirtschaft verpflichtet. In Frankreich wird Marine Le Pen nicht müde, auf der gleichen Basis die anonyme Macht des »göttlichen Marktes« zu kritisieren, und sieht in der Europäischen Union, der »Avantgarde der Globalisierung«, die exemplarische Illustration eines »Verzichtshorizonts«.5 Der Verantwortliche für das Wirtschaftsprogramm von Jean-Luc Mélenchon wiederum publizierte zur selben Zeit ein Werk mit dem sprechenden Titel Nous, on peut!6 und dem noch expliziteren Untertitel »Warum und wie ein Land gegenüber den Märkten, den Banken, den Krisen stets agieren kann, wie es will«. Dieses Plädoyer zugunsten des Nationalprotektionismus verstand sich somit klar und deutlich als Teil einer demokratischen Erneuerung, weit hinaus über