Zur Kritik des Populismus
Die am weitesten verbreitete politische Kritik am Populismus besteht darin, ihn des Illiberalismus zu bezichtigen, d. h. der Tendenz, die (»gesellschaftliche«) Ausdehnung der Individualrechte zugunsten der Stärkung kollektiver Souveränität in den Hintergrund zu drängen und zugleich den vermittelnden Körperschaften den Prozess zu machen, denen vorgeworfen wird, das Handeln der gewählten Organe zu behindern. Ich selbst habe vor zwanzig Jahren in Bezug auf den Second Empire von »illiberaler Demokratie« gesprochen8 und den Begriff in jüngerer Vergangenheit zur Bezeichnung populistischer Regime wiederaufgegriffen. Er erscheint mir nach wie vor geeignet, eine in fast allen Fällen anzutreffende Tendenz zu charakterisieren. Aber ich glaube nicht mehr, dass er noch den Grundgedanken einer wirksamen Kritik abgeben kann, d. h. einer Kritik, die Argumente vorträgt, die imstande sind, eine gegenteilige Meinung zu verändern. Und zwar aus dem einfachen Grund, weil die führenden Köpfe des Populismus diese liberale Demokratie explizit als reduktionistische und konfiskatorische Form einer authentischen Demokratie verwerfen. Wladimir Putin, Verfechter einer vermeintlich »souveränen« Demokratie, hat ausdrücklich betont, dass der Liberalismus »obsolet« geworden sei9, und Viktor Orbán hat seinerseits darauf verwiesen, dass »eine Demokratie nicht zwangsläufig liberal ist«.10 Es empfiehlt sich also, die Befürworter des Populismus auf dem Terrain einer demokratischen Kritik dieses Ideals zu stellen und mit ihnen zu diskutieren.
Das politische Leben ist ein Friedhof der Kritiken und Warnungen, die sich als unfähig erwiesen haben, den Lauf der Dinge zu ändern. Das ist mir beim Studium der Geschichte des 19. Jahrhunderts aufgefallen. Als ich zum Beispiel die Unfähigkeit der republikanischen Opposition gegen Napoléon III. erkannt habe, mit ihren Argumenten zur Masse der Franzosen durchzudringen. Sie wetterten gegen ein Regime, das sie zu Recht als freiheitsfeindlich kritisierten, waren aber zugleich nicht in der Lage, den Anspruch des Regimes zu widerlegen, die Volkssouveränität durch Rückgriff auf Plebiszite besser zu respektieren als seine Vorgänger.11 Mit anderen Worten, ihr Verstand befand sich nicht auf der Höhe ihrer Empörung. Das Gleiche passiert heute denen, die sich mit einer liberalen Kritik am Populismus begnügen. Das vorliegende Buch möchte den Bann brechen, indem es eine umfassende Kritik der Demokratietheorie entwirft, die der populistischen Ideologie zugrunde liegt.
Diese Aufgabe nimmt zunächst die Form einer fundierten Analyse der Grenzen des Referendums im Hinblick auf die Vollendung des demokratischen Ideals an. Anschließend wird die Frage der demokratischen Polarisierung behandelt und betont, dass eine Demokratie, die eine Gemeinschaft zur Herrin des eigenen Schicksals machen will, nicht nur auf der Ausübung einer durch Wahlen bestimmten Mehrheitsmacht beruhen darf. Da Letztere eine verfassungsmäßige, aber notorisch unzureichende Äußerung des Gemeinwillens ist, muss dieser zusätzliche Ausdrucksformen annehmen, um dem demokratischen Ideal mehr Konsistenz zu verleihen. Hierbei werden die Begriffe »Niemandes Macht« und »Irgendjemandes Macht« entwickelt, als zwei weitere Auffassungen des demokratischen »Wir«, mit den ihnen entsprechenden institutionellen Strukturen, um darauf hinzuweisen, welche Verkürzung eine rein wahlbezogene Sicht der Macht aller impliziert. Bei dieser Gelegenheit wird ferner nachgewiesen, dass Institutionen wie Verfassungsgerichte und unabhängige Behörden, die gemeinhin nur unter ihrer liberalen Dimension wahrgenommen werden, vor allem demokratischen Charakters sind. Denn sie stellen eine Sicherheit des Volkes gegenüber ihren Repräsentanten dar. Dieser Ansatz ist zugleich eine Einladung, die Beziehungen zwischen Liberalismus und Demokratie, d. h. zwischen Freiheit und Souveränität, auf inklusive, nicht exklusive Weise zu denken. Anschließend wird die populistische Auffassung des Volksbegriffs untersucht und dabei eine soziologisch begründete Kritik am Gegensatz zwischen dem 1% und den 99% entfaltet. Der Begriff der »demokratischen Gesellschaft im Aufbau« wird in diesem Rahmen dem einer imaginären Volkseinheit entgegengesetzt.
Zu diesen verschiedenen Kritiken theoretischer Natur kommen diejenigen an den Praktiken populistischer Regime hinzu. Vor allem mit den Umsetzungsbedingungen des Prinzips der Polarisierung der Institutionen: Veränderung der Rolle und Organisationsweisen der Verfassungsgerichte, Abschaffung oder Manipulation von unabhängigen Behörden, insbesondere von Wahlkontrollausschüssen, dort, wo diese existieren. Hinzu kommen die Fakten im Umgang mit den Medien, Verbänden und Oppositionsparteien. In ihrer Gesamtheit erhärten diese Elemente die Bezeichnung des »Illiberalismus«, der eine konkret erkennbare Bedeutung annimmt (die Ähnlichkeit mit den Praktiken und Rechtfertigungen des Second Empire wird sich in diesen Punkten als auffällig erweisen). Besondere Aufmerksamkeit wird in diesem Kontext den juristischen Instrumenten zuteil, die aufgeboten werden, um den langfristigen Bestand dieser Regime und die Unumkehrbarkeit ihrer Maßnahmen abzusichern, zumeist indem die Begrenzung der Zahl von Amtszeiten, die nacheinander wahrgenommen werden dürfen, aufgehoben wird.
Die Alternative
Bevor man den Populismus als Problem analysiert, sollte man ihn als Antwortvorschlag auf die Probleme der Gegenwart verstehen. Dieses Buch nimmt ihn ernst, indem es ihn in diesem Sinne analysiert und kritisiert. Doch diese Kritik kann nur dann ihrer Aufgabe gerecht werden, wenn sie in den Entwurf eines Alternativvorschlags mündet.12 Darum geht es auf den letzten Seiten dieses Werkes. Dort wird in groben Zügen skizziert, was eine verallgemeinerte und potenzierte Volkssouveränität sein könnte, die die Demokratie bereichert, anstatt sie zu vereinfachen oder zu polarisieren. Dieser Ansatz beruht auf einer Definition der Demokratie als ständig zu leistende Arbeit, fortgesetzte Erkundung, und nicht als Modell, dessen Züge man endlich getreu nachbilden könnte, wenn man die Erörterung der Konflikte und Debatten über ihre angemessene Form hinter sich gelassen hat.
1Es sei betont, dass es mit dem Wort »Demokratie« einst genauso war, vor allem in den Vereinigten Staaten. Im frühen 19. Jahrhundert war es in diesem Land eine Beleidigung, als »Demokrat« bezeichnet zu werden. Der Begriff war gleichbedeutend mit »Demagoge«, und Demokratie hieß, aus dem Munde der