Mit Rössern in den Untergang. F. John-Ferrer. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: F. John-Ferrer
Издательство: Bookwire
Серия: Zeitzeugen
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783475544880
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und war voller Bitternis und heimlicher Niedergeschlagenheit. Gerti, dachte er, du hast mir keinen guten Dienst erwiesen, aber ich danke dir trotzdem.

      Die Lokomotive pfiff anhaltend. Der lange Transportzug fuhr immer schneller und verschwand in der Dämmerung des Juniabends.

      Militärische Operationen verbergen sich gewöhnlich unter irreführenden Vorbereitungen. Strategische Entscheidungen werden vernebelt und im Zuge taktischer Instruktionen der Truppe auf Umwegen bekannt gegeben. Ein wichtiges Verschleierungsmittel ist die »Parole«, das nicht zu greifende Flüstergespräch, das Wort von Mund zu Mund. Niemand kennt die Quelle, aus der die Parole, das rätselhafte Satzgefüge, das Schleichgespräch, kommt. Es ist einfach da. Es regt die Meinungen an und lässt sich dennoch nicht konkretisieren. Es taucht beim Marschieren auf, auf den Stuben, bei einer Zigarette, in der Kantine oder auf der Latrine. Dort am ausgiebigsten – »Latrinenparolen« eben. Aber sie sind Vorläufer meist folgenschwerer Entscheidungen, die Ahnungen von Not und Tod.

      Wer hatte das Gerücht in die Welt gesetzt, dass die Transporte, die nachts aus allen Windrichtungen die Schienenstränge entlangrollten, gen Osten rumpelten, und dass die Züge von der europäischen Normal- auf russische Breitspur verladen würden? Wer hatte den erstaunlichen Unsinn geprägt, dass das verbündete Japan einen erneuten Waffengang mit China antreten würde und dass deutsche Streitmächte quer durch Russlands Weiten eilen sollten, um irgendwo in Wladiwostok oder Chabarowsk an einem fernöstlichen Kriegsabenteuer teilzunehmen? Schon eher glaubhaft hörte sich die Parole an, dass es in den südöstlichen Raum ginge, und dass man in den Balkankrieg eingreifen würde, der die Engländer aus dem Peloponnes verjagte.

      Die Stimmung in den Viehwaggons und Personenwagen war gut. Man sang und schaute zum Fenster oder zur weit offenen Schiebetür hinaus, wenn eine Station vorbeizog: Augsburg … Ingolstadt … Nürnberg.

      »Jungs, es geht doch gen Norden! Nach Dänemark!«

      Ja, nach Norden! Ins Land, wo Milch und Honig flossen!

      »Du meine Fresse – guckt doch mal! Berlin! Unser Berlin!«

      Stunden später:

      »Kerle! Kerle! Der Lokführer ist wohl meschugge! Det ist ja wieda Leipzig! Du jrüne Neune!«

      »Haha, die Wette gewinn ich! Nach Rumänien geht’s! Ich fress mein Hemd, dass es nach Rumänien geht!«

      Die Räder rollten und rollten. Pausenlos. Sie hielten nachts. Die Fahrer holten Tränkwasser aus den Wasserstellen der Bahnhöfe, die Küchenbullen gaben Verpflegung aus. Es gab Marketenderware: Kognak aus Frankreich, Schokolade aus Aachen. Die Beine der Pferde schwollen an vom langen Stehen auf dem schwankenden Untersatz.

      »Kinder, Kinder, wo geht das bloß hin? Wissen die Herren Generale nicht mehr, wo wir landen sollen?«

      Tage später:

      »Mensch – na guck doch! Das ist doch Breslau! Wir fahren also doch Richtung Osten!«

      »Wat ick jesagt hab: Russland! Breitspur! Japan! Mensch, ick seh mir schon in Tokio in een Geishahaus beim Fünfuhrtee! Schnieke, schnieke!«

      Der Gefreite Robert Benz hatte bei flackerndem Kerzenlicht einen Brief geschrieben. Die Schrift war verwackelt, da der Zug fuhr.

      »Meine liebe Gerti! Wir sind noch immer unterwegs. Weit weg von dir. Doch meine Gedanken sind bei dir. Jede Stunde! Jeden Tag! Jede Nacht! Ich spüre auch deine Gedanken, Liebes …«

      Es war ein langer Brief, den Benz in Warschau einem Bahnbeamten in die Hand drückte mit der Bitte, ihn bei der Feldpost abzugeben.

      »Aber gern, Kamerad«, sagte der Eisenbahner.

      Weiter ging die Fahrt. Das polnische Land sah öd und leer aus, die Sonne brütete auf den Waggondächem. Dann und wann keilte ein unruhig gewordener Gaul gegen die Waggonwand.

      »Sei artig, Tino … sei brav! Bald sind wir am Ziel!«

      Benz hatte sich an das Zusammensein mit den Pferden gewöhnt. Er roch deren Ausdünstungen gern, er fühlte sich wohl bei Hirtz und Berger. Sie spielten Karten oder saßen auf den Heuballen und unterhielten sich über vielerlei.

      »Wo bist eigentlich her, Robert?«, fragte Hirtz.

      »Aus Heidelberg.«

      »A schöne Stadt«, nickte Hirtz. Und dann sang er unter dem Gepolter der Räder: I hab mei Herz in Heidelberg verloren, in einer lauuuuen Sooommernacht …

      Benz dachte unterdessen an Vater und Mutter, an das kleine Häuschen in Neuenheim an der Uferstraße des Neckars. Jetzt blüht dort alles. Der Garten wird schattig sein. Vater liegt im Liegestuhl und liest die Zeitung. Die Fenster sind offen. Hansi, der Kanarienvogel, singt mit den anderen Vögeln um die Wette. Ob Gerti schon an meine Eltern geschrieben hat? Ist sie vielleicht schon zu Vater und Mutter gefahren? Hat sie auch meine sechs Briefe erhalten, die ich ihr schickte?

      Noch eine lange Nacht, in der Benz nicht schlafen konnte, dann fuhr der Zug plötzlich langsamer und hielt endlich. Sie waren in Siedlce.

      Noch stieg niemand aus, aber Hunderte Augenpaare schauten auf das öde Land, auf die Weite, die sich im hellen Morgendunst verbarg. Der Gesang war verstummt, die Gesichter schauten ernst und fragend. Polen? Was sollte man hier? Wo ging es hin? Was ging da vor, zum Teufel? Polen war doch längst besiegt!

      »Mensch, wir bleiben in Polen als Besatzung! Na, prost Mahlzeit, Polen!«

      Da waren sie wieder, die brüllenden Stimmen der Geschütz- und Zugführer!

      »Batteriiiie – fertig machen zum Ausladen!«

      »Du kriegst die Tür nich zu«, schimpfte Berger, der Schlosser aus Magdeburg. »Wir bleiben also doch in Polen! Schweinerei! Hätt ich mir bloß noch in Münsingen oder Melun den Blinddarm rausnehmen lassen, ich Dusseltier!«

      Der Zug stand vor der langen Verladerampe. Die Sonne sog den Morgendunst auf, als ausgeladen und auf der staubigen Bahnhofsstraße Aufstellung genommen wurde. Die Gäule waren steifbeinig und stolperten. Dort, wo die Lafetten und Rohrwagen von den Loren gezogen wurden, ertönte das Rufen der Fahrzeugführer.

      »Vooorsicht, Voooorsicht! – Los, an die Taue, ihr Heinis! Zuuugleich!«

      Benz hatte seine Gäule vorgespannt und tätschelte ihr schimmerndes Fell.

      Hirtz zog die Sattelgurte fester und schaute zu Benz hinüber. Der Gefreite grinste matt.

      »Robert, nun wissen wir’s scho genauer, gell?«

      Da kam Unteroffizier Brenner heran, der lange, magere Geschützführer.

      »Wissen Sie was, wo es hingeht?«, fragte Benz, da Brenner ja mit den Stabsleuten beisammen war und vielleicht etwas Genaueres gehört haben konnte.

      »Keine Ahnung. Niemand weiß, was anliegt.«

      »Manöver vielleicht«, riet Benz.

      »Kann leicht möglich sein«, gab Brenner zu. Dann die Frage: »Wie kommen Sie mit den Rossen zurecht, Benz?«

      »Gut.«

      Brenner klopfte Benz auf die Schulter. »Sie können bestimmt damit rechnen, dass ich Sie wieder als K 1 hole. Müssen bloß ’n bisschen warten, Benz. Sehen Sie zu, dass Sie mit Wachtmeister Schimanek klarkommen! Kapiert?«

      Benz wusste, dass Brenner seine Versetzung zu den Fahrern bedauerte. Aber Brenner konnte halt gegen Schimanek nichts ausrichten, und Schimanek hatte etwas gegen Benz.

      Die 1. Batterie war ausgeladen und stand marschbereit auf der Straße vor den Rampen. Plötzlich ertönte ein Trillerpfiff, und Spieß Dirks stand auf einem leeren Teerfass.

      »Batterie – vor der Güterhalle antreten! Spitzenfahrer bleiben bei den Pferden! Beeilt euch, Leute!«

      Sie traten an, richteten sich aus, standen stramm, schauten nach rechts, woher der Chef kam.

      »Rührt euch, Leute! Mal herhören!«

      Hauptmann Schröder trug nicht mehr die Schirmmütze,