• Identitätsdiffusion 118 bedeutet Zerfließen des Selbstgefühlts (der Identität): Wer bin ich, woher komme ich, wohin werde ich mich entwickeln? Sie äußert sich in Orientierungslosigkeit in Bezug auf die eigene Person und ihre Ziele und bewirkt eine tiefe Unsicherheit in Entscheidungen und Zwiespalt gegenüber den eigenen Gefühlen, Motivationen und Handlungen. Eine kontinuierliche Sicht und Bewertung der eigenen Person kann nicht hergestellt werden. Es entstehen oft bizarre Größenphantasien oder Selbstunwertgefühle.
• Störungen in der Selbstregulation: Die geringe Integration der inneren Welt bewirkt, dass das Erleben sich rasch verändert und unterschiedliche und oft widersprüchliche Erlebniszustände abwechseln. Je nachdem, ob man mehr auf die Ichfunktionen achtet, die dabei zum Tragen kommen, oder auf die emotionale Befindlichkeit und die Selbstbewertung, kann man von wechselnden Ich- oder Selbstzuständen sprechen.
• Mentalisierungsstörung: In einem erweiterten Sinne schließt die Identitätsdiffusion auch die Vorstellung von anderen mit ein. Diese können nicht »erspürt« und deutlich beschrieben werden. Die Reaktionen auf andere sind oft durch Fehleinschätzungen von Absichten und Empfindungen gekennzeichnet. Es besteht ein Mangel an Vorstellungen über das Befinden und die Motive der anderen.
• Störungen der Affektverarbeitung: Der Zugang zu den eigenen Gefühlen und denen anderer bleibt versperrt. Sie werden entweder gar nicht erkannt, werden nicht differenziert wahrgenommen und klar voneinander unterschieden oder in ihrer Bedeutung unzutreffend bewertet. Wenn die eigenen Affekte betroffen sind, spricht man von Alexithymie; bei den Affekten anderer von Empathiestörung. Affekte erscheinen unerträglich und werden durch affektgesteuerte Handlungen (z. B. Selbstverletzungen) oder andere Formen der Entlastung abreagiert.
• Störungen der Impulsverarbeitung: Ebenso ist der Bezug zur Bedürfnis- und Triebwelt gelockert. Die Impulssteuerung ist eingeschränkt, sodass die Integration in konstruktive Verhaltensweisen misslingt.
• Störungen der Beziehungsregulation: Gegenüber anderen besteht eine eingeschränkte Selbst-Objekt-Abgrenzung. Sie begründet die Neigung, Affekte und Impulse auf andere zu projizieren und dann auf sich selbst zu beziehen. So entsteht eine Neigung, affektive und impulsive Spannungen, die aus den Spaltungsprozessen entstehen, gegen sich selbst abzureagieren.
• Störungen des Realitätsbezuges: Die Verzerrung der Realitätswahrnehmung bezieht sich nicht nur auf Personen, sondern auch auf soziale Situationen, Aufgaben und Leistungen. Dadurch können Realitätsanforderungen nicht angemessen erkannt und bewältigt werden. Auf diese Weise entstehen auf Dauer umfangreiche Leistungsdefizite. Sie bewirken, dass Anforderungen und Belastungen zu Irritationen führen und Impuls- und Affektdurchbrüche herbeiführen, die zu einer weiteren Destabilisierung beitragen.
• Objektangewiesenheit: Aufgrund ihrer Ichschwäche sind Persönlichkeiten des niederen Strukturniveaus auf andere Menschen angewiesen, die ihre Defizite ausgleichen. Andere übernehmen für sie die Funktion als Hilfsich und helfen ihnen z. B. differenziert wahrzunehmen und sich einzufühlen, vorauszuschauen und vorauszuplanen. Sie brauchen andere in der Funktion als substitutive Objekte, um zu überleben. Das ist einer der Gründe für die Objektangewiesenheit, welche die Beziehungen von Persönlichkeiten des niederen Strukturniveaus prägen; ein anderer ist die Tatsache, dass andere ihnen existenzielle Sicherheit geben, die sie aus sich heraus nicht entwickeln können.
Weiterentwicklungen
Wie entwickeln sich Menschen weiter, die bereits in ihrer frühen Entwicklung ausgeprägte Defizite in ihrer Ich- und Selbstorganisation erworben haben? Sie entwickeln sich zu unruhigen, nervösen, trennungslabilen und bindungsunsicheren Kindern, die zu affektiven und zu Impulsdurchbrüchen neigen, aggressiv und unangepasst sind und nicht flexibel mit Herausforderungen und Schwellensituationen umgehen können. Als Jugendliche erscheinen sie eigenbrötlerisch und isoliert, gesellen sich mit ebenfalls strukturschwachen anderen Jugendlichen, schließen sich Randgruppen an und entwickeln Suchtverhalten oder auch asoziales Verhalten. Diese Beschreibung zeigt, dass es sich hier um Risikoentwicklungen handelt.
Es gibt aber auch eine autoplastische Anpassung, wenn spätere supportive Erfahrungen und Beziehungen zum Tragen kommen. Dann kann eine neurotische Persönlichkeitsentwicklung entstehen, welche die Borderline-Pathologie überbaut und verbirgt. Sie stabilisiert das Selbst und gestattet eine soziale Entwicklung, die über weite Strecken ein angepasstes und erträgliches Leben ermöglicht.
Unter Belastungen in Schwellen- und Entscheidungssituationen kann die darunterliegende Borderline-Pathologie aufbrechen. Das geschieht insbesondere in der Pubertät und beim Übergang ins Erwachsenenalter – aber auch bei starken regressiven Entwicklungen im Verlauf einer psychotherapeutischen Behandlung.
4.2.3 Selbstrepräsentanz und Objektbeziehungen
Unreife und Aggressivität: Borderline-Beziehungen
Die Beziehungen von Menschen, deren Persönlichkeit auf einem niederen Strukturniveau organisiert ist, sind vor allem durch panische Angst gekennzeichnet, verlassen zu werden. Die Objektangewiesenheit begründet sich in der lebenswichtigen Selbstobjekt-Funktion des Anderen und in der mangelnden Objektkonstanz, d. h. darin, dass eine stabile Objektrepräsentanz fehlt. Ohne reale physische Anwesenheit geht der Andere auch innerlich verloren. Darin spiegelt sich auch der unsichere Bindungsstil dieser Patienten (
Solange andere Menschen die Funktionen als Hilfsich und Selbstobjekt erfüllen, werden sie »nur-gut« empfunden und idealisiert. Wenn sie sich entziehen und dieser Funktion nicht mehr genügen, erscheinen sie »nur-schlecht«. Dieser Wechsel der Wahrnehmung ist mit einem Wechsel der Gefühle verbunden: Idealisierende Verehrung schlägt dann um in dramatische Entwertung und vernichtenden Hass. Daraus wird die maßlose Aggression der Borderline-Persönlichkeitsorganisation verständlich.
Aus solchen drastischen, unvermittelten und oft unerwarteten Einstellungsänderungen ergeben sich weitreichende Probleme für die Beziehungsgestaltungen im Alltag. Weil es kaum möglich ist, sich in diese Welt hineinzufinden, ist ein solcher Wechsel der Selbstzustände schwer nachvollziehbar und stellt Beziehungen im Alltag und in der Psychotherapie auf harte Proben. Der Wechsel zwischen Bezogenheit und Rückzug, krasser Idealisierung und Entwertung und die unberechenbare Beziehungsgestaltung belasten die Beziehungen in Partnerschaft und Beruf.
Grundstörung des Selbst119: Die narzisstische Borderline-Persönlichkeit
Durch die geringe Integration von Gegensätzen entwickelt sich im Selbstgefühl beim niederen Strukturniveau keine Grundstabilität. Indessen bleiben verschiedene Selbstvorstellungen und begleitende emotionale und körperlich-vegetative Selbstzustände nebeneinander bestehen. Sie können nicht zu einem kohärenten Selbstgefühl bzw. einem einheitlichen Selbstbild integriert werden. Die Selbstspaltung begründet die oben beschriebene Identitätsdiffusion und führt zu Depersonalisation, d. h. zu Fremdheitserlebnissen und zu wechselnden Selbstzuständen: Im Zustand der Selbstentfremdung können die Betroffenen sich absichtlich verletzen, als beschädigten sie einen fremden Körper. Sie versuchen, auf »einschneidende« Weise einen Kontakt zu sich (ihrem entfremdeten Selbst) herzustellen oder aufrechtzuerhalten, wenn ein Selbstverlust droht. Erst in einem späteren Selbstzustand können sie diese Handlung als autoaggressiv wahrnehmen.
Das Sicherheitsgefühl bleibt daran gebunden, dass andere Personen anwesend sind. Insofern haben andere für die Betroffenen eine selbststützende Funktion. Ihre Anwesenheit schützt vor dem Absturz in das Nichts, in die verzweifelte Hoffnungslosigkeit und Haltlosigkeit. In dieser Funktion sind sie als schützendes Selbstobjekt unentbehrlich. Das ist ein weiterer Grund für oben bereits erwähnte Objektangewiesenheit.
Persönlichkeiten des niederen Strukturniveaus können ihre Vorstellung von anderen schwer aufrechterhalten, wenn sie