Drei Wurzeln der Borderline-Persönlichkeitsorganisation
Unter ätiologischen Gesichtspunkten lassen sich je nach Zeitpunkt und Ausmaß pathogener und traumatischer Einflüsse auf die Entwicklung drei Arten von Borderline-Störungen beschreiben:
• Die Borderline-Persönlichkeitsorganisation als Entwicklungsstörung: Frühe emotionale Mangelerlebnisse und Mikrotraumata wie z. B. Störungen des Bindungs- und Sicherheitsbedürfnisses durch Verwahrlosung, Vernachlässigung, Rücksichtslosigkeit und frühe Trennungen, Armut, mangelnde Hilfen bei der Bewältigung der Krisen der Individuationsentwicklung usw. wirken sich als kumulative Traumatisierungen hemmend auf die Entwicklung aus. Sie betreffen die basale Identität und das basale Selbstgefühl, die Beziehungen zu anderen und basale Ichfunktionen wie z. B. die Mentalisierung. Sie bewirken, dass sich eine Borderline-Persönlichkeitsorganisation entwickelt. Diese Störung ist der Prototyp der Entwicklungspathologie.
• Die Borderline-Persönlichkeitsorganisation als Folge früher Traumatisierung: Frühe Makrotraumata in Form von Gewalt- und Missbrauchserfahrungen stellen Extremformen solcher Einflüsse dar. Sie können die Entwicklung einer Borderline-Persönlichkeitsorganisation nachhaltig fördern und verfestigen. Da die Unterschiede zwischen Mangelerlebnissen und Traumaerfahrungen gradueller und nicht grundsätzlicher Natur sind, erweist sich eine strikte Abgrenzung und Unterscheidung oft als schwierig. Bei vielen Patienten mit einer Borderline-Persönlichkeitsorganisation zeigt der Verlauf psychotherapeutischer Behandlungen aber, dass es für das Verständnis der Zustände tiefer Regression nützlich ist, neben einer Entwicklungsstörung die Möglichkeit einer Traumafolge in Erwägung zu ziehen.116 Vieles an »unverständlicher« Psychopathologie lässt sich dann als Reaktualisierung früher Traumaerfahrungen verstehen.
• Die Borderline-Persönlichkeitsorganisation als Folge später Traumatisierung: Es gibt eine Borderline-Persönlichkeitsorganisation, die erst im späteren Lebensalter nach Abschluss der basalen Entwicklung entsteht. Hier kommt es unter dem Einfluss von anhaltenden oder extremen Traumaerfahrungen in der Jugend und Adoleszenz, aber auch durch Extremtraumatisierung im späteren Leben, zur strukturellen Regression. Diese bewirkt mit der Einschränkung von Ichfunktionen eine Strukturveränderung. Bei dieser Art ist die späte Traumaerfahrung der maßgebliche Faktor, während vorbestehende Dispositionen, z. B. durch Entwicklungsdefizite, keine oder eine nur modulierende Rolle spielen.
In diesem Buch wird die Borderline-Persönlichkeitsorganisation als Entwicklungsstörung unter dem Begriff Borderline-Persönlichkeitsstörungen abgehandelt (
4.2.2 Das Ich bei der Borderline-Persönlichkeitsorganisation
Das Ich gewinnt erst im Laufe der Entwicklung an Stabilität. Seine Funktion ist in der Frühzeit davon abhängig, dass es gefördert und nicht überfordert wird. Der Schutz des Säuglings vor übermäßigen Reizen und die Bereitstellung einer wachstumsfördernden Umwelt ist daher eine besondere Aufgabe der Pflegepersonen und der Familie während der frühen Erziehung. Sie hat die Funktion eines »sozialen Mutterschoßes«.117 Trotz günstiger Bedingungen werden die Ichfunktionen erst nach und nach ausgebildet und bleiben in der Frühzeit labil. Daraus und aus der Dominanz der phasenspezifischen Spaltungsabwehr bei der Bewältigung der frühen Reifungsaufgaben resultiert eine für diesen Lebensabschnitt typische Ichschwäche, die als mangelnde Integration des Ich und als Defizit in Hinblick auf die Funktionalität und Stabilität von Ichfunktionen in Erscheinung tritt.
Spaltung und Spaltungsabwehr
Am Anfang der Entwicklung verfügt das unreife Ich über geringe Fähigkeiten zur Integration verschiedener Teilaspekte des Erlebens und der Wahrnehmung. Man kann von einer phasenspezifischen Integrationsschwäche oder auch von einem Zustand der primären Spaltungen sprechen. Er ist eine Funktion der entwicklungsgemäßen Unreife und keine eigentliche Abwehroperation.
Darüber hinaus gehört die Spaltung zu den frühesten Bewältigungsformen der menschlichen Psyche und stellt einen Versuch dar, die innere Welt zu strukturieren. In dieser Form wird sie zur Bewältigung von Desorientierung, Spannungen und Belastungen, z. B. bei »unlösbaren« Herausforderungen, und besonders auch zur Traumaverarbeitung eingesetzt. Widersprüchliches wird dabei einfach auseinandergehalten und danach bewertet und eingeordnet, ob die einzelnen Teile sich gut oder schlecht »anfühlen«. Wenn gut und schlecht konsequent auseinandergehalten werden, entsteht eine Polarisierung. Sie führt dazu, dass ein Teil der Wahrnehmungen als »nur-gut« eingestuft wird, der andere als »nur-schlecht« (oder »nur-böse«).
Dieser Mechanismus kann später wiederbelebt und zur Abwehr eingesetzt werden. Dann spricht man von defensiver Spaltung. Zusammen mit anderen Abwehrmechanismen wie Projektion, Introjektion, projektive Identifizierung und Verleugnung bildet sie eine komplexe Formation, die Spaltungsabwehr (
Menschen, die auf niederem Strukturniveau organisiert sind, neigen dazu, ihr Leben vornehmlich durch Spaltung zu bewältigen – teils weil sie noch im Stadium des desintegrierten Erlebens verhaftet sind, teils weil sie Spaltungsprozesse zur Bewältigung und Abwehr einsetzen.
Die Spaltungsabwehr ist ein kognitiver Bewältigungsprozess. Sie verändert die Wahrnehmungen so, dass Gegensätze und Widersprüche, die nicht ertragen werden können, aufgelöst werden. Das betrifft z. B. den Gegensatz zwischen Liebe und Hass: Statt eine Wut auf einen an sich geliebten Menschen zu erleben, spalten die Betroffenen die Objektvorstellung in einen wütenden und einen liebenden Anteil. Entweder wird dann der eine Teil auf einen anderen Menschen projiziert, sodass die beiden polaren Beziehungen gleichzeitig, aber getrennt voneinander bestehen. Oder einer der beiden Gefühlsanteile wird gegenüber ein und demselben Menschen zunächst verleugnet, sodass dieser als »nur gut« erlebt wird. Erst später wird das Schlechte in der Wahrnehmung zugelassen und das Gute verleugnet, sodass die Person »nur schlecht« gesehen wird.
Wie das Beispiel zeigt, haben Spaltungsprozesse die Funktion, instabile Beziehungen vor dem Zerbrechen zu schützen oder, innerseelisch betrachtet, das Gute vor dem Schlechten zu bewahren. Wenn dieser Prozess misslingt, entstehen unerträgliche Borderline-Zustände, d. h. maligne Selbstzustände. Sie sind durch Dysphorie, Erregung, Angst, Entfremdung, Verlorenheit oder andere vegetative oder affektive Empfindungen gekennzeichnet und werden häufig in mehr oder weniger selbstschädigender Weise abreagiert.
Im Gegensatz zur höher strukturierten, reiferen Verdrängungsabwehr werden Wut, aggressive Impulse und destruktive Phantasien aber nicht ins Unbewusste verdrängt, sondern von den eigentlich gemeinten Personen abgelenkt. Auf diese Weise erhält die Welt der Beziehungen und unbewussten Vorstellungen von sich selbst und den anderen ein archaisches Gepräge mit schwerwiegenden Folgen. Darüber hinaus werden andere über die projektiv-identifikatorische Abwehr kontrolliert und manipuliert, sodass die äußere Welt verändert wird. Die Borderline-Abwehr ist daher sehr häufig auch eine interpersonelle Abwehr.
Ichschwäche, strukturelle Ichstörung und Identitätsdiffusion
Man versteht unter Ichschwäche die Einschränkung der Fähigkeit, sich selbst und die Beziehung zu anderen hinreichend zu steuern und z. B. Triebspannungen und Affekte auszuhalten und zu verarbeiten. Für das Verständnis ist die Spaltung als zentraler Aspekt der Ichschwäche leitend. Sie bewirkt, dass die Komplexität des Erlebens der eigenen Person und der anderen nicht wahrgenommen und unter Belastungen nicht aufrechterhalten werden kann. Dadurch entsteht eine Ferne oder sogar Fremdheit