»Schau nicht so überrascht! So schießt man in Schlesien! Nicht in Preußen!«
Weil er mir abrupt den Rücken zuwandte, konnte ich sein Gesicht nicht sehen. Im Lager, noch bevor wir in unsere Bude traten, erzählte mir mein Kamerad Manfred Schur amüsiert:
»Lothar, der Kerl ist ganz rot angelaufen, als du ihn vor uns allen so blamiert hast.«
Einige der anderen, die dies hörten, und natürlich auch ich lachten vergnügt.
Am Sonntag verließ ich mit den beiden anderen Schützenkönigen um sechs Uhr das Lager. Zu Fuß gingen wir bei strahlendem Sonnenschein bis zur Danziger Freiheit und bestiegen dort die Straßenbahn zum Hauptbahnhof München. Werner Hall wollte nach Weilheim, Karl Reith nach Oberammergau und ich nach Garmisch. Im Trubel unter all den Fahrgästen fielen wir in unseren braunen Ausgehuniformen kaum auf, denn Uniformen aller Art gehörten längst schon zum Alltagsbild der Zeit.
Garmisch erreichte ich am späten Vormittag. Die von meinem Besuch überraschte Familie Maier, meine Hausleute, begrüßten mich mit lautem Hallo, und ich genoss die wenigen Stunden, die mir bis zur Abfahrt meines Zuges nach München verblieben, bis zur letzten Minute. Wieder einmal fühlte ich, wie sehr die gemütliche Wohnstube dieser einfachen Menschen für mich zur Heimat geworden war.
Kathi begleitete mich zum Bahnhof, und erst kurz bevor ich einstieg, wurde mir klar, weshalb sie mir heute manchmal so einsilbig erschienen war, denn jetzt erst teilte sie mir mit zitternder Stimme mit:
»Lothar! Du kannst es noch nicht wissen, aber mein Verlobter ist in Frankreich gefallen. Hoffentlich ist der ganze Kram bald zu Ende. Mach’s gut!«
Pünktlich um 18 Uhr meldeten wir drei uns in der Schreibstube wieder zurück.
Am 16. Juli wurden wir am Bahnhof in München-Freimann mit zunächst unbekanntem Ziel verladen. Das war keine aufwendige Sache. Wir bestiegen die damals gebräuchlichen Personenwagen der Reichsbahn, an deren Längsseiten Trittbretter aus Holz angebracht waren. Jeder von uns hatte seinen Tornister und Spaten bei sich. Die Karabiner 98k waren tags zuvor im Lager von einem LKW des Heeres abgeholt worden. Was in den drei Güterwagen am Zugende transportiert wurde, wusste keiner von uns. Während wir in die Waggons befohlen wurden, hörte ich die helle Stimme von Manfred Schur:
»Wahrscheinlich haben sie hier keine Arbeit mehr für uns!«
In unserem Wagen erklangen schon bald nach der Abfahrt fröhliche Lieder. O du schöner Westerwald durfte natürlich nicht fehlen. Karl Ritter aus Mittenwald hatte irgendwo in Hochbrück ein Schifferklavier aufgetrieben, das wir beim Anmarsch zusätzlich zu unserem Marschgepäck abwechselnd trugen. Jeder Trupp war zehn Mann stark. Unser Truppführer Stein schmunzelte zufrieden, weil Karl sein Instrument gut beherrschte. Immer mehr drängten in unsere Nähe, und Ernst Wölpl stellte vergnügt fest:
»Ganz vorn sitzen unsere Offiziere. In einer Kurve konnte ich von meinem Fensterplatz aus sehen, wie unser Herr Oberstfeldmeister zu uns zurück schielte. Dort vorn ist’s sicher langweiliger als bei uns!«
Im Bahnhof von Ulm begannen die Bremsen zu kreischen, und wir hielten zu einem Kurzaufenthalt. Hier schwirrte plötzlich das Gerücht von einem Wagen zum anderen:
»Wir fahren nach Frankreich. Wir sollen dort einen Flugplatz reparieren! Irgendwo im Elsass! Straßburg soll nicht weit davon entfernt sein!«
Einige Stationen vor Kehl bestiegen wir Busse. Als wir damit durch einige menschenleere Dörfer fuhren, fiel uns auf, dass deren Bewohner zur Zeit noch umgesiedelt, also in Sicherheit gebracht waren.
»Diese Vorsorge war völlig unnötig!«, rief einer hinter meinem Sitzplatz. »Die Franzmänner hätten es nie bis hierher geschafft!«
In Kehl war die Brücke über den Rhein gesprengt, und als wir in Bussen auf einer von unseren Pionieren errichteten Notbrücke den Fluss überquerten, sahen wir einige vom Wasser umspülte Teile der alten Brücke herausragen.
Am frühen Abend bezogen wir in Hagenau in einem Schulgebäude unser Lager. Entlang der geöffneten Fenster war auf dem Fußboden auf einem etwa zwei Meter breiten Streifen Stroh aufgeschüttet. Diese Schlafplätze wurden von dreißig Zentimeter hohen, senkrecht am Boden befestigten Fichtenbohlen begrenzt.
»Hier waren vor uns wohl Landser einquartiert!«, rief einer hinter mir, als wir in den für zwei Gruppen, also insgesamt 30 Mann, ausgelegten Raum drängten. Unsere über den zusammengerollten Mänteln aufgerollten Decken und die Zeltplane über unseren Tornistern waren schnell über das Stroh gebreitet. Unsere »Affen«, wie wir die Tornister nannten, dienten von nun an jedem von uns als Kopfkissen. Zufrieden betrachtete ich meinen Schlafplatz, als ich den lauten Ruf vernahm:
»Alle raustreten zum Essen fassen!«
Obertruppführer Breitsamer stand mit gespreizten Beinen vor der Tür.
Hunger hatten wir längst schon, und deshalb trampelten wir mit unseren Essgeschirren in den ehemaligen Schulhof hinaus. Jedes »Essgeschirr« bestand aus einem rund einen Liter fassenden, nierenförmigen Blechbehälter, der an den rückwärtigen Teilen des »Koppels« neben dem Brotbeutel befestigt werden konnte. Löffel, Gabel und Messer waren zusammenklapp- und schwenkbar in einem Stück zusammengenietet. Der Deckel des Blechnapfs war mit einem ebenfalls beweglichen Henkel versehen und konnte als Suppenteller verwendet werden.
Im Hof wartete unser Koch an seiner »Gulaschkanone«. Dabei handelte es sich um einen fahrbaren Küchenwagen mit einem Blechrohr als Kamin. Wir reihten uns einer hinter dem anderen vor ihm auf. »Heut hab ich Gulasch, Bratkartoffeln und frischen grünen Salat für euch. So gut kocht nicht einmal die Mama zu Hause!«, rief Koch Hannes von seinem erhöhten Standort zu uns herunter. »Drängeln gilt nicht! Es ist genug da für einen Nachschlag!«
Am anderen Morgen marschierten wir singend mit unserer Arbeitskleidung, weißen Drillichanzügen, sauber gewienerten Knobelbechern, umgeschnallten Koppeln und unseren Spaten auf der linken Schulter zum etwa drei Kilometer vor dem Ort gelegenen Feldflughafen. Drei Trupps begannen damit, einige nur notdürftig aufgefüllte Granattrichter dicht neben der grasbedeckten Rollbahn – betoniert war die Start- und Landebahn natürlich nicht – wieder einzuebnen und zu festigen.
»Es kann sein, dass die Landebahn je nach Wetterlage verlegt werden muss«, erklärte unser Oberfeldmeister mit laut brüllender Stimme. »Dann kann man die rotweißen Markierungshauben an ihren Rändern verändern. Sie muss jedenfalls fest bleiben und darf nicht verschlammen! Die Trichter müssen sich nachher so anfühlen, als hätte es sie nie gegeben! Also gewissenhafte Arbeit! Der Flugplatz muss bald wieder brauchbar sein!«
Die restlichen Arbeitsmänner unseres Haufens, zu denen auch ich gehörte, bekamen den Befehl, bereitliegende, zwanzig Zentimeter starke Rundholzpfeiler als Zaunpfähle in den Boden zu rammen. Stacheldrahtrollen lagen bereit, mit denen diese Pfähle verbunden werden sollten. Der Feldflughafen war zur Zeit nicht genutzt, musste aber vor seiner Wiederinbetriebnahme mit einem mannshohen Stacheldrahtzaun umgeben werden. Die Reste des beschädigten alten Zaunes lagen etwa hundert Meter entfernt am Waldrand auf einem Feld. Unser Trupp begann an der südlich gelegenen Ecke des Geländes mit nacktem Oberkörper fleißig zu arbeiten. Einige fuhren mit Schubkarren die runden Holzabschnitte vom anderen Ende des Flugfeldes zu uns, und ich hatte gerade mein drittes, gut einen Meter tiefes Rundloch mit einer von Hand zu bedienenden Ramme in den Boden gebohrt, als Rudi Heller von seinem Schubkarren zu mir herüber rief:
»Lothar! Du sollst auf der Stelle zu Unterfeldmeister Gaul kommen! Er steht dort vorne, neben dem Verwaltungsbau! Unverzüglich sollst du kommen! Lass dir also nicht zu viel Zeit, wenn du deinen Luxuskörper unter deiner Drillichjacke versteckst.«
Während ich mich in meine Jacke zwängte und mein braunes Käppi aufsetzte, fragte ich mich, was Gaul von mir wollen könnte. Fünf Minuten später, noch bevor ich mich vorschriftsmäßig zur Stelle melden konnte, rief er mir entgegen:
»Herrmann! Ich hab dem Kameraden von der Luftwaffe mitgeteilt, dass Sie eine besonders