Todesmarsch durch Russland. Klaus Willmann. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Klaus Willmann
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783475547119
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vernommen.«

      Die Türklinke bereits in der Hand, hörte ich ihn noch rufen:

      »Ach ja. Lassen Sie sich von Ihren Landsleuten und den anderen nicht zu oft zum Ausgehen verführen. Sie sind zwar alle immer pünktlich, wenn sie auf den hier zur Genüge gebotenen Tanzabenden mit Wein und hübschen Mädchen die Nächte durchgemacht haben, aber bedenken Sie, Sie haben nicht mehr als den vereinbarten Stundenlohn von 91 Pfennigen. Die billigste Unterhaltung hier ist das Kurkonzert. Denken Sie hin und wieder an meine Worte.«

      Dieser Hinweis schien mir überflüssig zu sein, und ich schüttelte lachend den Kopf. Alles sah nach einem längeren Aufenthalt aus, Garmisch konnte noch ein wenig warten.

      Denn schon nach wenigen Tagen an meinem neuen Wohnort hatte ich mich an die Arbeit, die Arbeitsweisen und Methoden, an das außergewöhnlich gute Arbeitsklima und auch an die hier wirklich reichlich gebotenen abendlichen Unterhaltungsmöglichkeiten gewöhnt. Landläufig ausgedrückt, begann ich mich hier im hohen Norden pudelwohl zu fühlen.

      Mein Meister schickte mich vier Wochen später zusammen mit den beiden Schlesiern Bernhard Bauer und Martin Schendel in die Schleswig-Holsteinische Schweiz, nach Malente/Gremsmühle. Dieser Umstand war keineswegs nachteilig für unsere inzwischen stark strapazierten Geldbeutel. Wir drei waren gleichaltrig – Jahrgang 1920 –, und sollten in Malente ein Müttergenesungsheim der NSDAP restaurieren, in dem wir für die Dauer unserer Tätigkeit auch untergebracht waren.

      Doch das Grollen am politischen Himmel der Zeit war keinem von uns verborgen geblieben. Die NS-Propaganda beschwor fast täglich im Rundfunk oder in anderen Medien die Schmach des Versailler Vertrags, der endlich revidiert werden müsse. Keiner von uns dreien war deshalb überrascht, als wir von Malente nach Bad Schwartau zur Musterung befohlen wurden. Es überraschte mich lediglich, dass ich ein bisher fremdes Gefühl verspürte: eine Mischung aus Bangen und Hoffen. Holte mich hier der Ernst des Lebens ein?

      Den Musterungsärzten blieb meine Anfälligkeit für Asthma verborgen, und weil ich mich dem Ruf des Vaterlandes nicht entziehen wollte, verschwieg ich diese Vorerkrankung. Außerdem fühlte ich mich gesund und kam gar nicht erst auf den Gedanken, mich vor der Wehrpflicht durch Krankheit zu drücken. Somit verließ auch ich die Turnhalle, in der ich mit zahlreichen jungen Männern gemustert wurde, mit dem Ergebnis »KV« (kriegsverwendungsfähig).

      Wir drei feierten unsere Kriegsdiensttauglichkeit zusammen mit einigen der anderen Gemusterten am Abend in einer Wirtschaft in der Nähe der Turnhalle. Der damals übliche Dienst beim RAD (Reichsarbeitsdienst) schien auch für mich näher gerückt zu sein, und ich stellte mich darauf ein, in naher Zukunft Soldat zu werden. Nur vor der Kriegsmarine empfand ich eine undefinierbare Scheu. Ich wollte keineswegs hinaus aufs Meer.

      »Lothar«, dachte ich im Stillen, »jetzt wird’s für dich höchste Zeit, in die Berge umzuziehen. Bei den Gebirgsjägern zu dienen, ist viel besser für dich, als in irgendeinem Kriegsschiff eingesperrt zu sein. In dieser Enge würdest du ausrasten.«

      Im Oktober arbeitete ich noch zwei Wochen lang am Timmendorfer Strand. Der Himmel über der Ostsee und ihren Küsten war meist wolkenverhangen, und der Regen prasselte hart auf menschenleere Strände. Unsere Meisterin und Wirtin war mittlerweile alleinstehend, denn man hatte ihren Mann zu den Waffen gerufen. Der Polenfeldzug war siegreich beendet, und allenthalben redeten die Menschen mit einem gewissem Stolz über diesen »Blitzkrieg« und unsere erfolgreiche Wehrmacht. Auch ich wurde von dieser Euphorie angesteckt, packte aber meine sieben Sachen, um baldmöglichst, wenn auch mit einer gewissen Wehmut im Herzen, den mir inzwischen so vertraut gewordenen Ostseestrand zu verlassen und endlich in die Alpen, nach Garmisch, zu fahren.

      Heinrich Holder, mein Kollege aus dem sächsischen Teil des Vogtlandes, war früher einige Zeit in Oberbayern gewesen. Von ihm hatte ich die Anschrift des Malermeisters Konrad Wolf bekommen, Kontakt mit diesem aufgenommen und umgehend eine positive Antwort erhalten. Weil die angekündigte Winterolympiade durch den Krieg obsolet geworden war, wollte ich mich keinesfalls verändern, ohne sicher zu sein, am neuen Wohnort sofort arbeiten zu können. Außerdem konnte ich nach meinem Ortswechsel ziemlich sicher sein, nicht zur Kriegsmarine eingezogen zu werden. Wieder einmal dachte ich:

      »Lothar, wenn schon zum Militär, dann bitte zu deiner Wunschwaffengattung, den Gebirgsjägern.«

      So fuhr ich in der Nacht zum 15. Oktober mit der Bahn los. Bei einem Zwischenaufenthalt in Hamburg empfand ich es als befremdlich, dass die Stadt wegen eventueller Fliegergefahr in völlige Dunkelheit gehüllt war. Einige Straßen, durch die ich mit meinem Wandersack lief, waren fast menschenleer und kaum befahren. Trotzdem fühlte ich mich sicher. Denn ich erinnerte mich an die starken Worte unseres Herrn Reichsluftmarschalls Göring, der lautstark verkündet hatte: »Wenn auch nur ein einziges Flugzeug des Feindes unser Reichsgebiet überfliegen sollte, dann will ich künftig Meier heißen.« Was aus dieser Verheißung wurde, haben dann später viele Hamburger und andere Großstädter, teilweise sogar unsere Landbevölkerung, schmerzlich erfahren, und »Herr Meier« wurde in Nürnberg zum Tod durch den Strang verurteilt.

      Dies alles konnte ich während meiner gespensterhaft anmutenden Nachtwanderung natürlich noch nicht ahnen, und so bestieg ich mit frohen und hoffnungsvollen Erwartungen den Zug nach München.

      Das verhaltene und leise Stimmengemurmel der Mitreisenden in meinem Abteil schläferte mich ein, und ich erwachte erfrischt, als wir uns schon München, der sogenannten »Hauptstadt der Bewegung«, näherten. Drei Stunden später bestaunte ich durch das Fenster des nach Garmisch fahrenden Zuges das draußen vorbeiziehende Loisachtal. Die umliegenden Berge, die bereits weiße Schneemützen trugen, übertrafen meine ohnehin hochgespannten Erwartungen. Das also waren die Alpen. Die Sonne beschien die Landschaft mit mildem Herbstlicht, doch ich glaubte zu fühlen, wie ihre Strahlen mich bis ins Innerste erwärmten. Es fühlte sich an, als hieße mich die Schönheit des Landes willkommen.

      Während ich gebannt durch das Fenster hinausstarrte und darauf wartete, dass der Zug endlich in Garmisch hielt, fragte ich mich, warum ich nicht schon früher in diese herrliche Landschaft gekommen war. In der Marktgemeinde Garmisch-Partenkirchen war Kirchweihsonntag, und ich bestaunte das rege Leben am und um den Marktplatz von Garmisch. Hier schien tiefster Friede zu herrschen. Die Mädchen und Frauen trugen ihre besten Sonntagsdirndln und redeten in einer Mundart, von der ich zunächst kaum ein Wort verstand. Der bayerische Dialekt wurde mir erst später vertraut.

      Nur der Umstand, dass die Mehrzahl der jungen Männer nicht in den bestickten Lederhosen und weißen Hemden der lokalen Tracht, sondern in den Uniformen der Gebirgsjäger von Marktstand zu Marktstand wandelten oder mit den »Dirndln« plauderten, erinnerte mich daran, dass Krieg herrschte. Mit meinem Wanderrucksack fühlte ich mich plötzlich fremd und manchmal auch bestaunt oder begafft. Doch alle waren freundlich zu mir, und einige fragten mich auch nach meinem Woher und Wohin.

      Mein neuer Arbeitgeber, Malermeister aller Art Konrad Wolf, hatte mir in der Danielstraße 20 in einem kleinen, aber sehr einladenden, schmucken Einfamilienhaus bei der Familie Maier eine Unterkunft besorgt. Die herzliche Art, mit der mich Mutter Maier und ihre Tochter Kathi begrüßten und mir unbefangen, wie selbstverständlich das Du anboten, überraschte mich angenehm. Kathi war ein Jahr älter als ich und verhielt sich anfangs zurückhaltend. Mutter Maier aber schien mich besonders sympathisch zu finden, denn sie meinte:

      »Lothar, zwischen uns scheint alles zu passen, und wenn’s so bleibt, dann kannst du so lange bei uns wohnen, wie du willst.« Leises Bedauern schien in ihrer Stimme mitzuschwingen, als sie hinzufügte:

      »Wahrscheinlich musst du ja bald einrücken. Pass auf, dass du unsere Siege überlebst. Mein Mann ist auch schon zur Wehrmacht eingezogen worden.«

      Familiäres Zusammenleben und Zusammenhalten waren für mich bisher Fremdwörter gewesen. Auch deshalb fühlte ich mich hier vom ersten Augenblick an auf eine eigenartige, wohltuende Weise geborgen. Damals ahnte ich schon, dass Frau Maier und ihre Tochter für mich wie Mutter und Schwester werden würden.

      Es folgten arbeitsreiche Tage und Wochen. Aber die Sonntage gehörten mir. Mit meinen neu erworbenen Skiern lernte ich zunächst auf Hängen in Talnähe das Skifahren und war selbst überrascht, wie schnell ich von Sonntag zu Sonntag