In diesem Jahr traf mich ein weiterer Schicksalsschlag: Mein Vater starb, und da meine Mutter keinen Kontakt mit mir haben wollte oder konnte, war ich von nun an auf mich allein gestellt. Meister Schindler wurde während dieser Wochen für mich so etwas wie ein Ersatzvater und der kleine Ort Waldtal/Malkwitz meine neue Heimat.
Mein Lehrherr verhielt sich mir gegenüber zwar immer freundlich, fast väterlich, war aber gleichzeitig konsequent und streng. Sehr schnell lernte ich bei ihm alte Bauernküchen auszumalen, Zimmer in den Schlössern und Herrenhäusern im Umland zu renovieren oder mit Ornamenten zu verzieren und vor allem in der vorweihnachtlichen Zeit Schaukelpferde oder anderes Spielzeug für Kinder zu bemalen oder zu lackieren. Zudem sollte es mir im späteren Leben des Öfteren von Nutzen sein, dass ich Schilder kunstgerecht beschriften und auch farblich gestalten konnte. Doch jetzt, während meiner Lehrzeit, war in der weiteren Umgebung kein Tanzsaal vor unserer Dekorationsmalerei sicher. Der Betrieb meines Lehrherrn konnte schon damals die zahlreichen Aufträge nur mithilfe zweier Motorfahrzeuge bewältigen, weil unsere Arbeitsstellen oft weit von Waldtal/Malkwitz entfernt waren. Weil mein Meister und ich am gleichen Tag Geburtstag hatten, zog er nicht nur an diesem Tag nach Feierabend mit mir und zwei Gesellen von Gasthaus zu Gasthaus. Zum Leidwesen seiner resoluten Gemahlin wiederholte sich dies noch mehrmals, und bei den Fahrten zurück nach Hause vertraute er mir manchmal mehr als sich selbst und setzte seinen Lehrling auch ohne Führerschein ans Steuer seines Opel P 4.
Obwohl ich von früh bis abends beschäftigt und auch zufrieden war und diese Zeit mit zahlreichen unvergesslich-schönen Erinnerungen verbunden ist, reifte in mir der Entschluss, nach meiner Lehrzeit auf Wanderschaft zu gehen. Der Drang, Neues kennenzulernen und Unbekanntes zu sehen, wuchs von Tag zu Tag, und deshalb verließ ich am 4. Januar 1939 das mir lieb gewordene Dorf. Doch schon wenige Tage danach spielte mir das Winterwetter einen überraschenden, üblen Streich. Ein Arzt stellte bei mir allergisches Bronchialasthma fest und schickte mich zu einem Kuraufenthalt nach Oberschreiberau im Riesengebirge. Hier lernte ich erstmals eine gebirgige Landschaft kennen. Ich hörte und las während meiner Genesung viel über die geplante Winterolympiade 1940 in Garmisch-Partenkirchen und begann zu träumen: Lothar, sagte ich mir, sobald es dir wieder besser geht, musst du ins Hochgebirge gehen. Bei den Vorbereitungen zur Winterolympiade findest du in Garmisch-Partenkirchen sicherlich Arbeit in deinem Fach.
Noch während meines Kuraufenthaltes in Oberschreiberau versuchte ich vergeblich, wenigstens für einige Zeit im Ort Arbeit zu finden und Geld zu verdienen, um meine Pläne verwirklichen zu können. Zunächst aber gelang mir dies lediglich in der Festung Dömitz an der Elbe. Hier wurden unterirdische Rüstungs- und Munitionshallen sowie Arbeitersiedlungen gebaut. Diese einfachen Anstreicherarbeiten vermochten mich nicht zu begeistern. Aus diesem Grunde wechselte ich als lernbegieriger Wanderbursche ins sächsische Arnsdorf. Hier half ich mehrere Wochen lang, die Nervenheilanstalt zu renovieren. Bei einem sonntäglichen Ausflug nach Dresden bot mir dort der noch junge, tatkräftige Malermeister Willi Lutter Arbeit und Unterkunft bei sich an. Ohne lange zu zögern, willigte ich ein. Mit ihm verband mich vom ersten Tag an eine ehrliche Freundschaft, war er doch selbst noch wenige Jahre zuvor als Wanderbursche unterwegs gewesen.
Zusammen mit meinem neuen Arbeitgeber lernte ich die »Vogelwiese« in Dresden kennen. Bei gemeinsamen Fahrradausflügen erkundeten wir das Elbtal bis hinüber ins Sudetenland. Er bestärkte mich in meiner Wanderlust mit den mir unvergesslich gewordenen Worten:
»Lothar, wer beruflich nicht möglichst viele Orte und Handwerksbetriebe kennengelernt hat, der wird selbst nie ein umsichtiger Meister werden können. Wenn du glaubst, bei mir genug gelernt und gesehen zu haben, musst du dich andernorts weiterbilden. Wenn du willst, kann ich dich gerne bei einem meiner ehemaligen Lehrmeister am Timmendorfer Strand, also oben an der Ostsee, anmelden. In diesem Meisterbetrieb habe ich selbst viel dazugelernt und erfahren. Nach Garmisch kannst du ja später auch noch wechseln – dann aber mit mehr beruflichem Können und Wissen, als du jetzt schon hast.«
Willi Lutter hatte ja recht. Nach anfänglichem Zögern stimmte ich seinem Vorschlag zu, obwohl es mich nach wie vor sehr zum Schauplatz der nächsten Winterolympiade zog.
Am letzten Sonntag im Juli 1939 packte ich also meinen Rucksack. Mein bisheriger Arbeitgeber wanderte zusammen mit mir bis zum Stadtrand. Er schien mit meiner Arbeit sehr zufrieden gewesen zu sein, denn er hatte meine Papiere um ein sehr gutes Zeugnis ergänzt. An der letzten Bushaltestelle an der Stadtgrenze von Dresden verabschiedete er sich mit einem kräftigen Händedruck und wünschte mir alles Gute für meinen weiteren Weg. Seine vagen und fast zögernd angedeuteten Befürchtungen, der Friede in Europa könne in Gefahr sein, vergaß ich in meiner jugendlichen Unbekümmertheit sogleich wieder.
Während Willi Lutter mit dem Bus wieder zurück in die Stadt fuhr, fand ich schon nach wenigen zu Fuß zurückgelegten Kilometern einen allein reisenden, freundlichen Herrn aus Berlin, der bereit war, mich in seinem Auto als Anhalter mitzunehmen. Deshalb erreichte ich schon am frühen Abend Potsdam und fand Unterkunft in der dortigen Jugendherberge. Kurz bevor ich in das Reich der Träume hinüber schwebte, dachte ich zufrieden: »Wenn das so flott weitergeht, dann werde ich schneller am Ziel ankommen, als Willi Lutter und ich dies angenommen haben.«
Am nächsten Morgen betrachtete ich es keineswegs als Zeitverschwendung, Sanssouci zu besichtigen. Während der Führung in den Räumen des Schlosses kam ich ins Gespräch mit einem jungen Motorradfahrer, der nach Flensburg wollte und mir von sich aus einen Platz auf seinem Sozius anbot. Travemünde, die Holsteinische Schweiz, Kiel und Eckernförde zogen auf diese Weise mühelos an mir vorüber. Etwas steif stieg ich in Flensburg schließlich vom Kraftrad des mir kaum bekannten Fahrers und bedankte mich für seine Hilfsbereitschaft.
Nun, da ich schon einmal hier war, wollte ich natürlich durch die Stadt und ihren malerischen Hafen streifen. Aber ich war doch bei meinem neuen Meister am Timmendorfer Strand angemeldet. Deshalb nutzte ich jede sich mir bietende Fahrgelegenheit und fand noch am späten Abend desselben Tages die Jugendherberge in Schleswig.
Jeder, der schon einmal in einer dieser nützlichen Bleiben übernachtet hat, kennt die nun folgende Prozedur: Schuhe ausziehen und verstauen, das Lager beziehen, Nachtruhe wahren und zuletzt das Nachtlager wieder so sauber verlassen, wie man es selbst gerne vorfinden würde. Das alles war mir nicht neu, doch beeindruckte mich bei Sonnenaufgang der Blick aus dem geöffneten Fenster über die Ufer der Schlei hinweg. Das war neu für mich.
»Herr Lutter, Sie haben mich wirklich gut beraten«, dachte ich im Stillen.
Gleich nach dem Frühstück wanderte ich an den Ufern der Schlei entlang und nutzte wieder einige der sich mir bietenden Mitfahrgelegenheiten. Wanderburschen meines Schlages schienen auch hier vertrauenswürdig zu sein. Als ich nur noch wenige Kilometer von meinem Ziel entfernt war, hielt neben mir ein Tempo-Dreirad an, um mich mitzunehmen. Schon nach wenigen Minuten wusste ich, dass es sich bei dem gemütlichen Fahrer um den Ofensetzmeister des Timmendorfer Strandes handelte. Auch hier oben kannte jeder Handwerksmeister den anderen, und der freundliche Alte fuhr mich bis vor die Haustür meines künftigen Chefs.
Als ich ins Büro von Meister Steger trat, empfing mich dieser mit den freundlichen Worten:
»Na, da kommt ja der warm empfohlene Schlesier.«
Dabei betrachtete er mich mit abschätzenden Blicken. Als er bemerkte, dass ich ihm meine Zeugnisse überreichen wollte, winkte er ab.
»Nein, nein, lassen Sie nur, Herr Hermann. Mit Gesellen aus Schlesien habe ich bisher nur beste Erfahrungen gemacht, und warum sollte das bei Ihnen anders sein?«,
Er bemerkte natürlich mein verdutztes Gesicht. Wegen seiner Bemerkung stieg in mir ein Gefühl der Freude, ja des Stolzes, auf. Er setzte sich wieder auf seinen Stuhl vor dem Schreibtisch, und ich hörte sein gluckerndes Lachen, das aus den Tiefen seines ansehnlichen Brustkorbes aufstieg. Danach wurde er plötzlich ernst:
»Herr Herrmann, Sie wohnen hier über der Werkstatt und haben in der Fremdenpension meiner Frau wie vereinbart freie Kost und Logis. Sie arbeiten und wohnen zusammen mit zwei Lehrlingen, einem Gesellen aus dem Vogtland, einem Dänen und zwei Oberschlesiern. Natürlich hoffe ich, dass Sie sich mit allen gut vertragen werden. Nun gehen Sie zuerst einmal hinüber in die Rezeption zu meiner