Todesmarsch durch Russland. Klaus Willmann. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Klaus Willmann
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783475547119
Скачать книгу
diesen Worten deutete er auf die Spinde, die, einer für jeden, zwischen den »Doppeldeckern« an den Längswänden rechts und links der Tür standen.

      Es wurde rasch Abend, während Roidl uns zeigte, wie wir unsere Kleidung zusammenzulegen und in der Reihenfolge, in der wir sie anderntags benötigten, zu stapeln hatten. Ganz unten lagen die weißen Fußlappen. So wie Roidl es uns vorführte, wickelte man diese anstelle von Socken um die Füße und konnte danach in die Stiefel schlüpfen, die Knobelbecher genannt wurden. Noch heute glaube ich seine raue Stimme zu vernehmen:

      »Wer das schlampig macht, ist selbst schuld, wenn er sich Blasen an den Füßen holt. Für so einen Schlamper wird ein jeder Überlandmarsch zur Qual! Schlappmachen gilt nämlich bei uns nicht! Natürlich wird auch am Samstag gearbeitet. Aber am Abend und am Sonntag habt ihr genug Zeit, um euer Zeug zu waschen. Eure Mama ist für euch nicht mehr zuständig! Nun etwas völlig anderes: Sie haben alle brandneue Knobelbecher erhalten, in die sich einige soeben hineinzwängen mussten. Das kann man ändern. Hier ist Lederfett. Das knetet man per Hand in die harten Knobelbecher und macht sie damit geschmeidig wie Hausschuhe!«

      Wir kneteten alle eifrig und waren kaum damit fertig, als der Ruf erklang:

      »Alle raustreten! Essen fassen!«

      An der Tür stand Truppführer Kießl und rief:

      »Hände vorzeigen! Was? Mit solchen Dreckpfoten wollen Sie essen. So etwas kommt bei uns nicht infrage! Zunächst einmal – Hände waschen!«

      Der Eindruck, den die ersten Tage beim RAD hinterließen, war nicht überraschend für mich. Am vierten Abend im Lager, kurz bevor wir müde in unsere Betten steigen durften, raunte mir Anton Sieß, der Sohn eines Garmischer Bäckers, ins Ohr:

      »Bei aller Begeisterung für unser Vaterland – dieses dämliche Griffeklopfen mit unseren Spaten, die Augen links, rechts! Still gestanden! Das hängt mir langsam schon zum Hals raus. Können die sich nichts anderes einfallen lassen? Ich dachte, beim RAD wird gearbeitet!«

      Schon am folgenden Morgen marschierten wir laut singend – wir hatten an einigen Abenden Marschlieder gelernt – in schnurgerade ausgerichteten Reihen mit unseren vorschriftsmäßig gepackten Tornistern auf dem Rücken und blank polierten Spaten auf den Schultern zum Flugplatz Oberwiesenfeld. Dort waren kleinere Schäden auf dem Flugfeld zu beheben und geringfügige Erdarbeiten zu verrichten. Wir konnten nur zwei Maschinen der Luftwaffe vor einem Hangar stehen sehen. Ich glaube, es handelte sich um Transportmaschinen, sogenannte »Tante Jus« mit ihren drei Sternmotoren.

      Nur zwei Tage waren wir auf dem Flugplatz beschäftigt. Bei den jeweiligen Hin- und Rückmärschen war ich froh darüber, meine Fußlappen immer gewissenhaft um die Füße gewickelt zu haben. Einige meiner Kameraden waren weniger glücklich, und Franz Bauzer, ein Kamerad in meiner Bude, war am zweiten Abend dazu gezwungen, sich Blasen an den Fersen mit einer Nadel aufzustechen und seine Füße mit Wundpflastern zu bekleben. Dabei beobachtete ihn Ferdinand Weber eine Minute lang mit belustigtem Gesichtsausdruck, bevor er rief:

      »Du Schlamper! Das kann nur dir passieren. Wir haben unsere Lappen so gewickelt, wie dieser Gernegroß es uns eingetrichtert hat. Hast du etwa geschlafen? Unsere Trittlinge sind unversehrt! Sei froh, dass der Schorsch genügend Pflaster hat, sonst würdest du jetzt dumm aus der Wäsche schauen!«

      Einige Kameraden lachten schallend. Nein, viel Mitgefühl konnte der Ärmste kaum erwarten.

      Dass der sogenannte Arbeitsdienst in Wahrheit der Vorbereitung auf den Kriegseinsatz diente, zeigte sich bei der Ausbildung an der Waffe. Unterfeldmeister Gaul übte mit uns unnachsichtig bis zum Erbrechen. Dabei herrschte ein rauer Umgangston. Schon nach wenigen Tagen konnte jeder von uns fast blind den Karabiner 98k zerlegen, entölen und wieder einfetten.

      Nicht nur mir wurde dieses Einerlei langweilig. Wir fieberten doch alle dem Tag entgegen, an dem wir endlich scharf schießen sollten. Stattdessen beschäftigte man uns damit, einige Moorwiesen in der Umgebung mit Drainagen trocken zu legen.

      Natürlich verfolgten wir in diesen Tagen gespannt den Fortgang des Krieges. Wir hörten die Nachrichtensendungen des Reichsrundfunks und lasen im Völkischen Beobachter. Dieses täglich erscheinende Parteiorgan der NSDAP besorgte jeden Tag ein anderer aus unserer Bude, was unsere Vorgesetzten sehr wohlwollend beobachteten.

      Schon zuvor wussten wir, dass uns nach dem Angriff auf Polen am 1. September 1939 Frankreich und England den Krieg erklärt hatten, ohne allerdings Polen mit einem Gegenangriff zu helfen. Bisher war im Westen nichts Neues geschehen. Dort herrschte der sogenannte Sitzkrieg, den Hitler am 10. Mai dieses Jahres beendete, indem er die angeblich unüberwindliche Maginotlinie für unsere Gegner überraschend umging. Am Tag meines Dienstantritts in Hochbrück, am 15. Mai 1940, kapitulierte Holland, einige Tage danach Belgien, und am 20. Mai erreichten deutsche Panzer die Kanalküste. Wir jubelten laut, als am 22. Juni im Wald von Compiègne unser General Wilhelm Keitel und der Franzose Charles Huntziger den Waffenstillstandsvertrag unterzeichneten. Damit war die »Schande von Versailles getilgt«, wie es im Propagandasprachgebrauch hieß, und damit dies auch mit möglichst großer Symbolwirkung geschah, hatte man dazu den Salonwagen aus dem Museum geholt, in dem 1918 der Waffenstillstand unterzeichnet worden war.

      Zwei Tage später bewunderten wir in den Zeitungen das Foto Hitlers vor dem Eiffelturm in Paris. Einige von uns machten keinen Hehl daraus, dass sie gern früher als später Soldat werden wollten. Ich selbst hüllte mich zu dieser Frage zwar in Schweigen, musste mir aber eingestehen, dass auch ich bereits von der allgemeinen Begeisterung und dem Siegestaumel erfasst war.

      Es war an einem glühend heißen Tag Ende Juni, als wir mit vorschriftsmäßig gepackten Tornistern und geschulterten Spaten zu einem sogenannten Gewaltmarsch mit unbekanntem Ziel aufbrachen.

      »Wem ist denn diese Schnapsidee ins Hirn gekrochen?«, knurrte Ernst Wölpl neben mir, bevor wir uns auf das Kommando »Im Gleichschritt Marsch!«, in Bewegung setzten. Immer wieder hörten wir den Ruf: »Ein Lied!« Daraufhin erklangen aus unseren ausgetrockneten, rauen Kehlen mehr oder weniger melodisch, aber laut die altbekannten Soldatenlieder wie Schwarzbraun ist die Haselnuss, Es zittern die morschen Knochen oder Es ist so schön, Soldat zu sein.

      Auf staubigen Landstraßen erreichten wir nach etwa zweieinhalb Stunden den Dorfplatz einer Ortschaft, deren Namen mir entfallen ist. Hier erwarteten uns Feldmeister Brutscher und unser Oberstfeldmeister (der Dienstgrad des Letzteren entsprach etwa einem Kompanieführer beim Militär) neben dem Dorfbrunnen. Beide hatten ihre Fahrräder an den Steintrog eines Brunnens gelehnt, in den leise plätschernd ein Wasserstrahl aus einem gebogenen Stahlrohr floss. Bei diesem Geräusch mussten wir alle begehrlich schlucken.

      Obwohl unsere Kehlen wie ausgedörrt waren, war es uns vor Beginn dieses Marsches streng untersagt worden, während des Marschierens zu trinken.

      »Bevor ihr zum Militär kommt, werden wir aus euch Muttersöhnchen schon noch abgehärtete deutsche Männer machen!«, hatte unser Feldmeister gebrüllt.

      »Das Ganze Halt!«, wurde schließlich befohlen und »Rechts um!«

      In schnurgerade ausgerichteten Reihen standen wir unseren beiden Vorgesetzten gegenüber.

      »Erstes Glied einen Schritt vor, drittes Glied einen Schritt zurück!«

      Feldmeister Brutscher schritt gemächlich langsam durch unsere Reihen und ließ sich von jedem Mann seine mit Wasser gefüllte Feldflasche zeigen. Nur zwei von uns hatten das strenge Trinkverbot nicht befolgt. Brutscher notierte sich ihre Namen und rief:

      »Für jeden dieser unbeherrschten Kerle gibt es zwei Tage Ausgangssperre an den beiden nächsten Wochenenden!«

      Anderntags marschierten wir mit stolz geschulterten Karabinern zum Schießplatz nach Freimann. Endlich Scharfschießen! Diesem Ereignis hatten wir fast alle erwartungsvoll entgegengefiebert. Als mein Name aufgerufen wurde und ich an einen der Schießstände trat, sah ich Vormann Kießl, der als Aufsichtsperson neben meinem Schießstand fungierte. Bevor ich zu meinem ersten Schuss anlegte, hörte ich ihn spöttisch bemerken:

      »Na ja, so viel wird unser Preuße ja nicht treffen.«

      Als