Er schaute auf den Altar vor sich und schloß für einen Moment die Augen. Es war ein paar Monate her, da standen er und Silvia in einer Kirche, in England. Sie hatten im Seebad Brighton zusammen einen Liederabend gegeben und anschließend einen Kurzurlaub dort verbracht.
Damals schien die Welt noch in Ordnung. Von Trennung war nicht die Rede gewesen. Im Gegenteil – als sie in der kleinen Kirche standen, schmiedeten sie bereits Hochzeitspläne.
»In so einer Kirche möchte ich heiraten«, hatte Silvia gesagt und sich verliebt an ihn gelehnt.
Frank schluckte, als er an diesen Moment voller Liebe zurückdachte. Mit Elan hatte er sich in die Vorbereitungen für die Tournee gestürzt. Nach der Beendigung hatte es soweit sein sollen. Doch dann kam alles anders. Aus heiterem Himmel erklärte die Sängerin die Beziehung zu ihm für beendet, und Frank wußte bis heute nichts über die wahren Gründe.
Tagelang war er wie betäubt gewesen und hatte darüber nachgegrübelt, was er falsch gemacht haben könnte. Es wollte ihm nichts einfallen. Auch Jürgen Bender, der Silvia Cosmar gut kannte, gelang es nicht, von der Sängerin zu erfahren, was diesen Sinneswandel bewirkt hatte.
Wäre er nicht vertraglich gebunden gewesen, hätte Frank Weilander seine Konzerttournee sofort abgebrochen. Wie sollte er, fragte er sich, die Menschen mit gefühlvollen Liebesballaden erfreuen, wenn es in ihm selbst so düster aussah? Nur mit Aufbietung aller seiner Kräfte gelang es ihm, das alles durchzustehen. Doch nach dem letzten Auftritt fühlte er sich nur noch leer und ausgebrannt. Immer noch spielte er mit dem Gedanken, alles hinzuschmeißen und sich zurückzuziehen.
Pfarrer Trenker kehrte zurück und unterbrach seine Gedanken. Frank erhob sich, und sie setzten ihren Rundgang fort.
»Es war sehr freundlich von Ihnen, mir alles zu zeigen«, sagte er, als er sich später verabschiedete. »Ich werde bestimmt noch öfter herkommen.«
»Das würd’ mich freu’n«, erwiderte Sebastian, mit einem freundlichen Nicken.
Er blickte dem Sänger hinterher.
Täuschte er sich, oder gab es da etwas, was Frank Weilander beschäftigte?
Der Seelsorger meinte einen bekümmerten Zug im Gesicht des jungen Mannes entdeckt zu haben, gerade so, als trage er eine schwere Last mit sich herum. Zuvor hatte er noch ganz anders gewirkt. Es hatte gerade den Anschein, als hätten die Minuten Besinnlichkeit, die Frank Weilander auf der Kirchenbank zugebracht hatte, diese tiefe Traurigkeit in ihm hervorgerufen.
Der Bergpfarrer täuschte sich nur selten, seine Menschenkenntnis hatte ihn noch nie getrogen. Er war sicher, daß er und Frank noch einiges zu besprechen haben würden.
Nachdenklich wandte er sich um. Sein Blick glitt zur Sakristei hinüber, wo er die Unterredung mit Alois Kammeier gehabt hatte.
Es war schlimm, was der Mesner ihm berichtet hatte. Sebastian konnte es kaum fassen. Noch gestern hatte er geglaubt, daß St. Johann, in dieser lauten Welt, ein kleiner Ort des Friedens und des Glücks sei. Nun mußte er feststellen, daß das Schicksal wieder einmal grausam zugeschlagen hatte.
Unvermittelt sah sich der gute Hirte von St. Johann zwei Problemen gegenüber, von denen er noch nicht wußte, wie er sie lösen konnte…
*
Zum Mittagsessen gab es bunten Salat aus dem Pfarrgarten. Sophie Tappert hatte ihn mit hartgekochten Eiern und Schinkenstreifen garniert, außerdem grob geraspelten Bergkäse darüber gestreut. Das Salatdressing stand in einer Sauciere, zur freien Bedienung, daneben.
Während der Bruder des Bergpfarrers wie immer zulangte, aß Sebastian eher verhalten. Immer wieder ließ er die Gabel sinken und schaute nachdenklich vor sich hin.?Max, der das Verhalten seines Bruders kannte, fragte schließlich nach dem Grund.
»Immer wenn du so nachdenklich bist, beschäftigt dich ein Problem«, stellte er fest.
Der Geistliche sah auf.
»Es stimmt«, nickte er. »Ein ziemliches Problem sogar. Es geht um den Florian Kammeier, der Neffe uns’res Mesners.«
»Was ist denn mit ihm?«
»Er ist krank«, antwortete Sebastian. »Sehr krank.«
Der Sohn des Bruders von Alois Kammeier war ein Wunschkind. Immer wieder hatten die Eltern sehnlichst darauf gewartet, daß sich Nachwuchs einstellte, und beinahe schon die Hoffnung aufgegeben, als sich ihr Wunsch dann endlich doch noch erfüllte. Leider hatte es das Schicksal nicht gut mit dem Kleinen gemeint. Der inzwischen Fünfjährige hatte eine angeborene Herzkrankheit. Immer wieder mußte er ins Krankenhaus eingewiesen werden und komplizierte Operationen über sich ergehen lassen. Trotzdem wollte sich eine wirkliche Heilung nicht einstellen. Im Gegenteil?– Florians Zustand hatte sich in den letzten Wochen immer mehr verschlechtert. Manchmal war es so schlimm, daß seine Eltern und Dr. Wiesinger nächtelang an seinem Bett saßen. Stundenlang telefonierte der Arzt mit seinem alten Gönner und Doktorvater, Professor Bernhard. Sie berieten, welche Möglichkeiten es gab, dem Buben zu helfen. Professor Bernhard, eine Koryphäe auf dem Gebiet der internistischen Medizin, ließ sich alle Unterlagen kommen und suchte den Rat weiterer, kompetenter Kollegen. Inzwischen schien das Ergebnis festzustehen. Florians einzige Rettung war eine komplizierte Operation am Herzen, die allerdings in dieser Form vorerst nur in den Vereinigten Staaten ausgeführt worden war. An der Universitätsklinik in Boston hatten Ärzte damit das Leben eines jungen Mannes gerettet.
»Und warum fliegen Florians Eltern net mit ihrem Sohn nach Amerika?« fragte der Polizist.
Sebastian Trenker schob seinen Teller von sich.
»Weil sie net das Geld dazu haben«, erklärte er. »Die Operation, der Flug und der Aufenthalt dort, das ist alles sehr teuer, und die Krankenkassen hier in Deutschland bezahlen so etwas net. Leider.«
»Ja, aber, um Himmels willen«, mischte sich die Haushälterin ein, »da muß man doch was unternehmen. Man kann doch net tatenlos zuschau’n, wie der Bub…«
Sophie Tappert brach ratlos ab.
»Das werd’ ich auch gewiß net«, sagte Sebastian entschlossen. »Allerdings weiß ich im Moment noch net, was ich da unternehmen kann. Mit den Verantwortlichen der Krankenkasse zu sprechen, wird wenig Sinn haben. Die sind an ihre Vorschriften und Gesetze gebunden. Auf jeden Fall werd’ ich nachher die Familie besuchen und ihr sagen, daß sie net allein’ steht, mit ihrem Schicksal.«
»Man müßt’ eine Spendensammlung organisieren«, schlug Max vor. »Wenn jeder etwas gibt, da muß doch einiges zusammenkommen.«
»An so etwas hab’ ich auch schon gedacht«, nickte sein Bruder. »Allerdings weiß ich net, ob das Geld wirklich reicht. Es handelt sich immerhin um eine Summe von ungefähr fünfundzwanzigtausend Euro.«
Max stockte fast der Atem.
»Das ist viel Geld.«
»Leider viel zuviel, als das man diese Summe im Handumdrehen aufbringen könnt’«, stimmte Sebastian zu. »Natürlich werd’ ich versuchen, einen größeren Betrag von der Kirche zu bekommen. In der nächsten Woche bin ich ohnehin beim Bischof und werd’ das Problem ansprechen. Aber das allein wird net reichen. Wir sind da ganz auf die Solidarität der Gemeinde angewiesen.«
»Also, was immer du dir da ausdenkst – meine Unterstützung hast du«, versprach Max.
Sein Bruder lächelte.
»Ich weiß, Max, und dafür bin ich dir sehr dankbar.«
*
Frank Weilander fühlte sich wesentlich besser, als noch vor ein paar Tagen. Die freundlichen Menschen, die ihm begegneten, das herrliche Wetter und die gute Bergluft, alles trug dazu bei, daß der junge Sänger sich in St. Johann wohl fühlte. Lediglich wenn seine Gedanken wanderten, zeigte sich ein trauriger Zug auf seinem Gesicht.
Doch schnell wischte er ihn wieder fort. Er war hergekommen, um Urlaub zu machen und zu vergessen.
Nach dem Besuch in der Kirche und der Unterhaltung