Der Jüngere zuckte die Schultern.
»Weil du ein Verlierer bist«, sagte er gleichgültig.
In Tobias’ Augen flackerte es auf. In Sekunden war tief verborgener Haß aufgebrochen. Haß, den er in all den Jahren unterdrückt hatte, weil er ihn nicht wahrhaben wollte. Doch jetzt war das Faß endgültig zum Überlaufen gebracht worden. Mit einem Schrei stürzte er sich auf Markus, und sie rollten über den Boden.
*
Vroni hatte den Tisch für das Abendessen gedeckt. Erika Anstetter kam in die Küche. Sie schaute auf die Uhr.
»Ich denk’, wir sollten schon anfangen«, meinte sie. »Wolfgang wird noch eine ganze Weile brauchen. Wo sind denn die beiden?«
»Tobias wird die Kühe gemolken haben«, antwortete das Madel. »Und Markus ist, glaub’ ich, ebenfalls draußen. Ich geh’ und hol’ sie.«
Die Bäuerin hielt sie zurück.
»Wart’ einen Moment«, bat sie. »Hast’ inzwischen mit Markus geklärt, was aus euch wird, wenn er wieder fort muß?«
Ein dunkler Zug lag auf ihrem hübschen Gesicht, als Vroni nickte.
»Ja, wir haben darüber gesprochen.«
»Und?«
Sie zuckte die Schultern. Auch wenn sie vorhin gute Miene zum bösen Spiel gezeigt hatte – in ihrem Innern machte sich immer noch Enttäuschung darüber breit, daß Markus sie nicht mitnehmen würde.
Erika Anstetter nahm sie in die Arme.
»Er wird schon wissen, warum er so entschieden hat«, sagte sie tröstend. »Und wer weiß, wozu es gut ist?«
Vroni nickte tapfer.
»Ich sag’ ihnen Bescheid.«
Im Stall, wo sie Tobias zuerst vermutete, traf sie niemanden an. Durch eine Tür gelangte sie in die Scheune. Vorne, am Tor, hörte sie Stimmen. Vroni wollte schon rufen, als sie bemerkte, daß die beiden Brüder offenbar stritten. Sie schob sich durch die abgestellten Wagen und Gerätschaften weiter nach vorn. Direkt neben dem Tor sah sie Markus und Tobias. Sie standen sich beinahe feindlich gegenüber, ihre Stimmen waren laut.
»Aber du liebst sie net«, sagte Tobias gerade zu seinem Bruder. »Geb’ doch zu, daß du nur mit ihr spielst, daß das Madel für dich nix and’res ist, als ein Zeitvertreib. Eine hübsche Abwechslung für den Urlaub.«
Vroni war es, als stocke ihr Herzschlag, als sie Markus’ Antwort hörte. Er bestätigte die Behauptung seines Bruders, kalt und berechnend.
Zweifel an seiner aufrichtigen Liebe zu ihr, waren der jungen Frau selbst schon gekommen. Doch sie hatte es nicht wahrhaben wollen. Rosarot war die Brille gewesen, durch die sie geschaut hatte, und die Ernüchterung tat furchtbar weh.
Wie durch eine Wand aus Watte hörte sie die Vorwürfe, die Tobias dem Bruder machte, und die höhnische Antwort, die Markus darauf gab. Es war, als erwache sie aus einem Traum, und in diesem Moment sah sie, wie der Mann, dem ihre ganze Liebe galt, wirklich war.
Kalt, egoistisch, zynisch.
Durch einen Schleier aus Tränen nahm sie wahr, daß die beiden auf dem Boden lagen und miteinander rangen. Flüche wurden ausgestoßen, und Fäuste geschwungen. Der eine blutete hier am Kopf, der andere hatte eine aufgeplatzte Lippe, wo ihn die Faust des Bruders getroffen hatte.
»Hört auf! So hört doch endlich auf!« schrie Vroni.
Sie hatte sich nach vorn durchgezwängt und stand über den Kämpfenden. Sich zwischen sie zu werfen, wagte sie nicht. Zu leicht hätte sie einen Schlag abbekommen können. Dafür schrie sie so laut, daß Erika Anstetter im Haus aufmerksam wurde und herausgelaufen kam.
»Auseinander!« herrschte sie ihre Söhne an. »Seid ihr vollkommen narrisch geworden?«
Beherzt riß sie den über Markus knienden Tobias hoch. Benommen rappelte er sich auf. Der Jüngere erhob sich ebenfalls. Keuchend standen sie sich gegenüber, und der Haß loderte immer noch in ihren Augen.
»Könnt’ mir vielleicht mal einer sagen, was hier los ist?« forderte ihre Mutter sie auf.
Tobias sah sie mit leerem Blick an.
»Frag’ den da«, erwiderte er und drehte sich um.
Kopfschüttelnd sah Erika ihm hinterher. Dann wandte sie sich an Markus.
»Also, was ist los? Warum
seid ihr übereinander hergefallen?«
»Da mußt’ schon Tobias fragen«, antwortete er. »Der hat angefangen.«
Die Bäuerin war nahe daran, die Geduld zu verlieren.
»Himmelherrgottnocheinmal! Bekomm’ ich endlich eine Antwort?«
Markus zuckte die Schultern und wandte sich um. Fassungslos sah seine Mutter ihm nach, wie er im Haus verschwand.
Vroni stand neben ihr. Sie hatte die Hände vor das Gesicht geschlagen und schluchzte ununterbrochen. Erika Anstetter strich ihr über das Haar.
»Was ist denn bloß los mit den beiden?« fragte sie.
Ihre Ziehtochter konnte nicht antworten. Mehr noch, als über die Rauferei der zwei Brüder entsetzte sie, die Wahrheit aus Markus’ Mund gehört zu haben.
Ein Zeitvertreib, mehr war sie nicht für ihn. Eine Abwechslung im Urlaub.
Die beiden Frauen wollten gerade ins Haus zurückgehen, als die Tür aufgerissen wurde und Tobias herausstürzte. Er lief zu seinem Wagen, sprang hinein und raste, wie von Furien gehetzt, vom Hof.
Erika und Vroni sahen sich an und liefen hinein. In der Diele blieben sie entsetzt stehen. Markus lag vor ihnen auf dem Boden. Er hatte die Augen geschlossen und blutete aus einer Wunde am Kopf.
*
Sebastian saß beim Abendessen, als ihn der Anruf erreichte.
»Ich muß zum Anstetterhof«, rief er hastig in die Küche. »Etwas Furchtbares ist gescheh’n.«
Seine schlimmsten Befürchtungen waren wahr geworden. Als er auf dem Hof eintraf, hatte Dr. Wiesinger den Verletzten schon versorgt. Markus saß in der Diele auf einem Stuhl, um den Kopf einen Verband.
»Das schaut schlimmer aus, als es ist«, erklärte der Arzt.
»Wo ist Tobias?« fragte der Geistliche.
Der Bauer und seine Frau zuckten die Schultern, Vroni war nicht fähig etwas zu sagen. Sie schluchzte ununterbrochen.
Wolfgang Anstetter war nach Hause gekommen, kurz nachdem Tobias fortgefahren war. Er hatte auch den Arzt alarmiert und Sebastian angerufen und ihn gebeten, herzukommen. Der Bergpfarrer sah den Ingenieur an.
»Was hat’s zwischen euch gegeben?« wollte er wissen.
Markus erwiderte stumm den Blick, sagte aber nichts. Vroni war es, die sich endlich aufraffte. Sie berichtete, wie sie nach den zwei Brüdern gesucht hatte und in der Scheune Zeugin der Auseinandersetzung geworden war. Beinahe Wort für Wort wiederholte sie den Streit.
Wolfgang senkte beschämt den Kopf.
»Ich fürcht’, ich hab’ doch mehr versäumt beim Tobias, als ich gedacht hab’«, sagte er zerknirscht. »Dabei hab’ ich immer nur das Beste für meine Kinder gewollt.«
»Das ist aber net immer das, was die Eltern glauben«, erwiderte Sebastian. »Aber lassen wir das mal beiseite. Jetzt ist’s wichtig, daß wir Tobias finden, ehe er eine Dummheit begeht.«
Erika Anstetter griff sich entsetzt ans Herz.
»Sie meinen, er könnt’… sich was antun…?`«
»Das will ich net hoffen. Aber Tobias