Sie erhob sich, dann zerrte sie den Stein an den Rand des mit Gras bewachsenen Weges und rollte ihn, um ihn nicht zu beschädigen, auf dem Gras hinauf.
Sie wollte mehr als nur einmal aufhören, den Stein einfach fallen lassen.
Ehe sie sich dazu entschloss, bekam Kelly einen neuen Energieschub und machte weiter. Weiter und weiter und weiter … Sie verlor jedes Gefühl für Zeit und Raum.
Als der Mond hinter einer dunklen Wolke verschwand, machte Kelly im Dunkeln weiter. Sie war wie besessen, hatte ihren Verstand vollkommen ausgeblendet. Und wahrscheinlich musste das auch so sein, denn hätte sie das alles hinterfragt, hätte sie sofort damit aufhören müssen.
Irgendwann kam sie oben an, ließ sich erschöpft einfach ins Gras fallen.
Geschafft!
Kelly war so sehr am Ende ihrer physischen Kraft, dass sie sich darüber nicht einmal freuen konnte. Und sie verspürte auch nicht das leiseste bisschen Triumph. Irgendwann richtete sie sich wieder auf. Alle Knochen schmerzten, nur konnte sie darauf keine Rücksicht nehmen. Sie war längst noch nicht fertig mit ihrer Arbeit und musste da durch, auch wenn sie sich augenblicklich das Gefühl hatte, durch einen Fleischwolf gedreht worden zu sein.
Kelly reckte sich, dann ging sie müden Schrittes hinüber zum Parkplatz des Hotels, schleppte sich zu ihrem Auto, holte den Schlüssel aus ihrer Hosentasche, stieg ein.
Ihre Hand zitterte, als sie ihn in die Zündung steckte, die Handbremse löste, den Wagen langsam den abschüssigen Weg bis zu den Klippen hinunterrollen ließ.
Nachdem sie sich vergewissert hatte, dass die Handbremse wieder ordentlich angezogen war, stieg sie aus, lief um das Auto herum, öffnete den Kofferraum.
Nun kam der schlimmste Teil, und sie fragte sich, wie sie diesen schweren Grabstein in ihr Auto hieven sollte.
Es gab nur eine Möglichkeit.
Alle Kräfte noch einmal mobilisieren, die Zähne zusammenbeißen und noch ganz schnell ein Gebet gen Himmel schicken und darauf hoffen, jetzt nicht einen Bandscheibenvorfall zu riskieren.
Lange herumkaspern durfte sie eh nicht mehr, denn sie hatte bereits sehr viel Zeit gebraucht und durfte nicht riskieren, dass es im Hotel Frühaufsteher gab oder jemand den Weg entlanggefahren kam und sich darüber wunderte, was sie da so trieb.
Kelly probierte aus, wie sie den Stein am besten packen konnte, und dann gelang es ihr doch tatsächlich, ihn, ohne ihn dabei zu beschädigen, in den Kofferraum zu heben.
Zum Glück hatte sie immer eine Decke im Wagen, damit hüllte sie den Stein vorsichtshalber ein, dann machte sie den Kofferraum zu. Die Abdeckung gab nicht preis, was sich jetzt in dem Auto befand.
Also wieder einsteigen, diesmal musste sie den Motor anlassen und konnte leider nicht verhindern, dass sie ihn laut aufheulen ließ. Zumindest hatte sie nicht Gas mit der Bremse verwechselt, denn das wäre fatal gewesen.
Als sie sicher sein konnte, dass der Wagen nicht zurückrollen würde, löste sie die Handbremse und war froh, unbeschadet wieder auf dem Parkplatz angekommen zu sein.
Sie war am Ende, und am liebsten wäre Kelly einfach im Auto sitzen geblieben, doch das ging ja nicht.
Also stieg sie aus, schleppte sich zum Hotel, und dann hangelte sie sich von Stufe zu Stufe nach oben.
In ihrem Zimmer angekommen, brachte sie nicht mehr die Kraft auf, sich auszuziehen, sondern warf sich, so wie sie war, einfach aufs Bett und war in kürzester Zeit schon eingeschlafen.
*
Trotz der nächtlichen Schwerstarbeit, der unterbrochenen Nachtruhe, erwachte Kelly am nächsten Morgen relativ früh.
Und auch wenn sie das Gefühl hatte, den Körper einer Hundertjährigen zu haben, funktionierte ihr Verstand wieder, und sie fragte sich, was das in der Nacht gewesen war.
Was hatte sie da bloß getan?
Was war in sie gefahren?
Es konnte doch unmöglich sie gewesen sein, die diesen Grabstein den weiten, beschwerlichen Weg bis zum Auto geschleppt hatte.
Wozu?
Diese Frage stellte sie sich mehr als nur einmal, ohne eine Antwort darauf zu finden.
Gab es so etwas, dass eigentlich ganz normale Menschen von irgendwelchen Geistwesen fremdgesteuert wurden?
Sie konnte doch nur fremdgesteuert worden sein, denn von selbst wäre sie niemals auf den Gedanken gekommen, so etwas Wahnwitziges zu tun.
Der Traum fiel ihr wieder ein, der weder Hand noch Fuß hatte, und wenn der tatsächlich der Auslöser für diese Verrücktheit gewesen sein sollte, dann war es wohl an der Zeit, ihren Verstand untersuchen zu lassen.
Bradley MacCready, den sie noch niemals gesehen hatte, den sie niemals sehen würde, den sie aber, zumindest im Traum, hatte heiraten wollen. Und dann Kelly MacCready … Oh nein!
Kelly wollte an nichts mehr erinnert werden. Sie sprang, so weit das überhaupt möglich war, vom Bett hoch, und wenige Minuten später stand sie unter der Dusche und ließ heißes Wasser auf sich herunterprasseln.
Das war sehr angenehm.
Als sie nach dem duschen ihren Körper abtrocknete, spürte sie wieder jeden Knochen einzeln und konnte es deswegen leider nicht verhindern, wieder an ihre Wahnsinnstag in der Nacht denken zu müssen. Und dabei beschäftigte sie vor allem eine Frage. Was sollte jetzt mit dem Grabstein geschehen?
Den konnte sie doch unmöglich als Souvenir mit nach Hause nehmen! Na bravo!Da hatte sie sich etwas eingehandelt. Sie musste sich sehr zusammenreißen, um nicht anzufangen zu weinen.
Und da sie jetzt unbedingt einen Sündenbock brauchte, lud sie alles auf ihren Exfreund und Beinahe-Ehemann ab, denn hätte er sie nicht betrogen, dann wäre sie nicht hier gelandet und hätte diesen Grabstein nicht gefunden, der jetzt in ihrem Kofferraum lag. Und sie hätte nichts von einer Kelly erfahren, die hundert Jahre zuvor an einem sechzehnten September geboren worden war, um fünfundzwanzig Jahre danach zu sterben, genau in einem Alter, in dem sie jetzt war.
Und wenn sie nun ebenfalls mit fünfundzwanzig Jahren sterben würde?
Sie hatte sich den Grabstein in den Kofferraum geholt, wurde also unentwegt an die andere Kelly erinnert.
Wenn dieses ständig an sie erinnert werden so etwas wie eine sich selbst erfüllende Prophezeiung war? Dann hatte sie jetzt schlechte Karten. So etwas wie Panik stieg in ihr hoch. Sie musste den Stein wieder los werden, unbedingt! Aber was sollte sie mit ihm machen?
Sie konnte ihn nicht einfach die Klippen hinunterwerfen. Herrje!
Warum hatte sie ihn nicht einfach liegen lassen? Warum hatte sie ihn überhaupt finden müssen? Warum war er nach so vielen Jahren, die er irgendwo im Gestrüpp gehangen hatte, ausgerechnet jetzt an Land gespült worden?
Der alte Mann aus der Strandbude kam ihr in den Sinn, sie hörte seine Worte in ihren Gedanken.
Jonathan hatte von Schicksal gesprochen, dem Weg, der sie hierher geführt hatte, weil es ihre Vorbestimmung gewesen war.
Er hatte nichts über Glück oder so etwas gesagt, war insgesamt ziemlich vage geblieben.
Und hatte er ihr den Whisky vielleicht nur aus dem Grund eingeschenkt, weil er geträumt hatte, dass sie bald sterben würde, genau wie Kelly MacCready … Mit fünfundzwanzig Jahren? Es war eine gruselige Vorstellung, die sie aber leider nicht mehr los wurde.
Sie hatte sich von der ersten Sekunde an der anderen Kelly verbunden gefühlt.
Wäre das nicht die Zeit gewesen, einfach davonzulaufen?
Doch anstatt beizeiten alles wieder zu vergessen, hatte sich alles manifestiert, war sie wie besessen davon gewesen, mehr über eine Frau zu erfahren, die seit gefühlten Ewigkeiten tot war. Sie musste hier weg, zurück in ihr altes Leben …, wenn sie dazu überhaupt noch die Gelegenheit hatte.