Jahrgang 1936 – weiblich. Barbara Schaeffer-Hegel. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Barbara Schaeffer-Hegel
Издательство: Автор
Серия:
Жанр произведения: Биографии и Мемуары
Год издания: 0
isbn: 9783826080616
Скачать книгу
Mitschüler und Mitschülerinnen wie auch ich nur Vieren, Fünfen und Sechsen. Wie sollten wir auch die Pflanzen kennen, die wir nicht selber gesammelt, getrocknet und identifiziert hatten. Als Herr Wieser in der nächsten Stunde die Klasse zum Sitzen aufforderte, blieb ich stehen. Ich bat Herrn Wieser darum, diese Arbeit nicht fürs Zeugnis gelten zu lassen. Die Schüler hätten keine Chance gehabt. Keiner könne die Pflanzen der anderen kennen. Nur die eigenen. Und das wären fünfzig und nicht mehrere hundert verschiedene Gewächse. Die Klassenarbeit wäre ungerecht und dürfe daher nicht zählen, brachte ich mit ziemlich entschlossener Stimme vor. Aber Herrn Wieser wies mich barsch zurück. Es ginge ja nicht darum, nur die Pflanzen zu kennen, die man zufälligerweise getrocknet und gepresst habe. An Sonntagen, auf Spaziergängen mit den Eltern, bei jeder Gelegenheit müsse jeder Schüler nach unbekannten Pflanzen Ausschau halten und die Eltern fragen, wie sie hießen.

      Ich war empört:

      »Und wenn die Mutter die Pflanze selber nicht kennt! Was soll man dann machen?«

      Die ganze Klasse lachte und Herr Wieser wusste keine Antwort. Er schlug mit seinen fetten Händen auf den Tisch und begann seine nächste Vorlesung.

      Der absonderlichste von allen Lehrern war aber Dr. Wagner. Der „Wagges“, wie ihn die Schüler nannten. Herr Wagner war mein Lehrer für Latein und Geschichte. Wenn ich mich für Geschichte zu interessieren begann und das Fach später studierte, so verdankte ich das dem völlig unkonventionellen Unterricht von Herrn Wagner. Der „Wagges“ unterrichtete mit Leidenschaft, mit Fantasie, mit Sinn für Dramatik und mit schier endlosem Wissen. Er hielt sich an keinerlei Lehrpläne. Wenn er von einem Thema ergriffen wurde, dann erzählte er wie besessen und so, als ob er einen ganzen Saal voller Menschen begeistern müsste – mitreißend, spannend und mit vielen interessanten Einzelheiten und Anekdoten. Sein Geschichtsunterricht war wie eine Theatervorstellung. Und man konnte ihn wunderbar ablenken. Leonore Dilgers Eltern hatten eine Anzahl alter Stiche und Kopien von griechischen Statuen aus ihrem zerbombten Antiquitätenladen in Heilbronn gerettet. Als Leonore einmal ein solches Exemplar, eine kleine Kopie des Apolls von Praxitels, in die Schule mitbrachte, geriet der „Wagges“ in Verzückung. Eine ganze Stunde lang erzählte er von Griechenland – obwohl wir gerade bei der römischen Geschichte waren -, von seinen Reisen nach Athen und auf den Peloponnes, wie er den Olymp bestiegen hatte und in Santorin die weißen Stufen zur Kirche, und wie er in Mykene das Grab des Agamemnon und in Kreta den Palast von Knossos und die Zeushöhle im weißen Gebirge besucht hatte. „Wagges“ erzählte ohne Pause, bis die Schulglocke ihn rüde unterbrach.

      Ich und meine Klassenkameraden nutzten seine Begeisterungsfähigkeit schamlos aus. Alle Schüler suchten zuhause nach irgendwelchen antiken Erinnerungsstücken, Scherben oder anderen Artefakten. Man brauchte solch ein kleines historisches Asservat nur gut sichtbar zu drapieren, möglichst auf die erste Bank, und der „Wagges“ geriet ins Schwärmen. Und unmerklich wechselte er manchmal die Zeiten. Dann waren es plötzlich nicht mehr römische Söldner, die in Italien kämpften, sondern deutsche Soldaten und Amerikaner und abtrünnige Italiener. Und dabei vergaß der „Wagges“, dass für diesen Tag eine lateinische Vokabelarbeit vorgesehen war.

      Herr Wagner war, wie alle meine Lehrer, hochgradig jähzornig. Wenn er einen Schüler oder eine Schülerin beim Abschreiben erwischte, oder wenn er glaubte, ein Schüler lache über ihn – was ja oft vorkam, aber meist gut kaschiert wurde – brüllte er los und verhängte die schlimmsten Strafarbeiten. Mich erwischte es, als ich in einer Schulstunde über die Gracchen in meinem Notizheft kritzelte und mit unbeholfenen Strichen versuchte, den Hinterkopf meines Vordermannes aufs Papier zu bannen. Ich konnte nicht zeichnen. Neben Weitwurf war Zeichnen die Disziplin, für die ich keinerlei Begabung hatte. Der Kopf meines Vordermannes war also kaum erkenntlich, als der „Wagges“ mich ertappte und in dem Gekritzel auf dem Papier eine Karikatur seiner selbst zu entdecken glaubte. Ich konnte noch so heftig versichern, dass das, was ich da zeichnete, nicht der Lehrer, sondern unser Mitschüler Wolfgang, der „Schlauch von hinten“ sei. Herr Wagner war nicht zu erweichen und verordnete Nachsitzen. Und zwar am kommenden Dienstag. Nachmittags.

      »Dienstag geht nicht« erwiderte ich, »am Dienstag ist schulfrei; da mache ich eine Radtour mit meiner Freundin«.

      Das sei ihm völlig egal, erklärte Herr Wagner und bestand auf Dienstag. Der Einwand, dass ich dann ja nicht nur eine Stunde Nachsitzen, sondern eine viel härtere Strafe bekäme, ließ ihn ungerührt. Auch als ich am nächsten Tag vor dem Lehrerzimmer auf ihn wartete und ihn nochmals inständig um einen anderen Termin für das Nachsitzen bat. Dr. Wagner blieb eisern. Keine Chance.

      Das war am Samstag nach der dritten Stunde. Am darauffolgenden Montag stand ich, mit Schulheft, Lateinbuch und Schreibstiften ausgestattet, um 16:00 Uhr nachmittags vor der Haustüre meines Lehrers. Als auf mein Klingeln hin glücklicherweise Herr Wagner persönlich die Türe öffnete, sagt ich mit ruhiger Stimme:

      »Melde mich gehorsamst zum Nachsitzen!«

      Ob Herr Wagner nur verblüfft war, oder verärgert, oder ob er sich amüsierte, – der Lehrer ließ sich nichts anmerken. Ich meinte nur ein leichtes, nicht unbedingt bedrohliches Zucken seiner Mundwinkel zu bemerken. Er wies mir einen Platz in seiner Laube an, bezeichnete einen Absatz im Buch zur Übersetzung und Bestimmung der Verbformen, und zog sich ins Haus zurück.

      Noch immer stand ich am Fenster und dachte daran, wie ich meine Mutter damals in Schutz genommen hatte. Wie ich Herrn Wieser vor dem Lehrerzimmer abgepasst und zur Rede gestellt hatte. Dass er meine Mutter in Ruhe lassen sollte. Dass er, wenn er sich über mich ärgerte, sich bitteschön an mich wenden und nicht meine Mutter vor den Kollegen im Lehrerzimmer beschimpfen solle. Meine Mutter habe nichts damit zu tun.

      Warum musste meine Mutter ausgerechnet Lehrerin an dieser Schule sein. Nichts als Ärger hatte man davon! Jeder im Ort kannte einen und wenn man einmal etwas ausgefressen hatte, erfuhr es die Mutter sofort. Andererseits hatten die Leute auch einen gewissen Respekt vor einem. Meine Mutter war ja „Jemand“ in der Stadt. Und die meisten Leute hatten Kinder oder Enkel in der Oberschule und wollten es nicht mit meiner Mutter verderben. Aber manchmal war das nur einfach peinlich. Die Sache mit der „Hexe“ zum Beispiel, unserem Hund. Als der Großvater gestorben war und nur noch die kranke Oma und mein Vater in der Stitzenburgstraße 15 in Stuttgart wohnten, war Hexe, Opas schwarzbrauner Langhaardackel, zu uns nach Künzelsau gebracht worden. Hexe, eine nicht mehr allerjüngste Dackeldame, war nicht nur bei mir und meinen Brüdern, sondern auch bei allen Hundeherren der Umgebung außerordentlich beliebt. Weshalb sie, wenn sie ihre „Tage“ hatte, nicht zuhause im Garten bleiben durfte, während die Familie in der Schule war und nur Rosel zuhause blieb. Rosel war als Hundewächterin nicht geeignet und außerdem viel zu beschäftigt mit Putzen und Kochen und allen anderen Haushaltsdingen. Daher hatte unsere Mutter für diese Notzeiten im Lehrerzimmer ein Körbchen deponiert. Hexe konnte dort, von wechselnden Lehrern bewacht, den Schulvormittag verbringen. Morgens band Mutter die läufige Hündin mit einer langen Leine an ihrem Fahrrad fest und fuhr mit ihr zur Schule. An diesen Tagen waren ich und meine Brüder heilfroh, dass wir den Schulweg nicht mehr gemeinsam mit der Mutter absolvieren mussten. Denn diese Mutter fuhr nun auf ihrem Fahrrad die ganze lange Amrichshäuser Straße hinunter, am Fluss entlang, über die Brücke, und durch die gesamte Altstadt hindurch bis zur Schule – mit Hexe an der Leine und gefolgt von einem langen Zug liebestoller Rüden.

      Ich stand immer noch auf dem Flur vor dem Fenster. Ich solle bis zum Ende der Stunde vor der Türe stehen bleiben, hatte Mutter gesagt. Das wäre fast eine dreiviertel Stunde. Und eine halbe Stunde war schon vergangen, seit ich hier draußen stand. Ich hatte keine Uhr, aber die Turmuhr schlug jede viertel Stunde und zweimal hatte sie schon geschlagen. Ich hatte keine Lust mehr, hier Strafe zu stehen. Und außerdem war es ungerecht. Meine Mutter hätte mich zumindest anhören müssen, ehe sie sich von ihrem Sitz in der mittleren Bankreihe auf mich stürzte.

      Meine Mutter hatte die Angewohnheit, ihr erhöhtes Lehrerpult zu verlassen und sich mit dem Rücken zur Tafel in der mittleren der drei Bankreihen auf die vorderste Schulbank zu setzen. Die mittlere Bankreihe war die kürzeste, da sie Platz für die Kipptafel lassen musste. Die Schüler, die auf der ersten Bank der Fenster- oder der Wandreihe saßen, befanden sich daher immer hinter dem Rücken und damit außerhalb des Blickfeldes der Lehrerin. So auch ich. Meine Mutter