Jahrgang 1936 – weiblich. Barbara Schaeffer-Hegel. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Barbara Schaeffer-Hegel
Издательство: Автор
Серия:
Жанр произведения: Биографии и Мемуары
Год издания: 0
isbn: 9783826080616
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hatte. War es nicht schlimm genug, die eigene Mutter als Lehrerin zu haben? Letztes Jahr hatte es einmal richtig geknallt. Wegen Christiane Wechsler, dieser Sklavenseele. Aber da hatte sich meine Mutter fair verhalten. Christiane Wechsler wohnte nur ein paar Häuser weiter in der Amrichshäuser Straße. Und sie versuchte immer, sich bei meiner Mutter beliebt zu machen, indem sie ihr die schwere Schultasche mit den Korrekturheften nachhause trug. Aber das hatten wir dieser Schleimerin dann ein für alle Mal abgewöhnt. Meine Freundin Ruth und ich hatten ihr an der Brücke aufgelauert, hatten ihr Mutters Tasche aus der Hand gerissen und ihr nebenbei einige kräftige Fausthiebe versetzt. Danach musste ich Mutters Tasche zwar selber nachhause tragen, was ganz schön lästig war. Aber der Schleimerin hatten wir es gezeigt.

      Und dann, nur wenige Tage später, hüpften ich und meine Banknachbarin zwischen zwei Schulstunden in Vorfreude auf die großen Ferien auf unseren Sitzen auf und ab. Wobei der hinter uns sitzenden Christiane ein Stift aus der im Pulttisch eingekerbten Federrille rollte und zu Boden ging. Christiane hob den Stift auf und rammte ihn mit Wucht in meinen Rücken. Die sich anschließende Rauferei fand unter den anfeuernden Rufen der ganzen Klasse statt, sodass niemand bemerkte, als die Lehrerin das Klassenzimmer betrat. Meine Mutter schob die jauchzenden und grölenden Schüler beiseite, schnappte sich mein linkes und Christianes rechtes Ohrläppchen, befahl die Schüler auf ihre Bänke und zog uns beide vor die Klasse, wobei sie unsere nach unten gedrückten Köpfe fest an den Ohren hielt. Was denn hier los sei, fragte Mutter streng. Christiane heulte mit weinerlicher Stimme los: »Bärbel hat meinen Füller auf den Boden geschmissen!«. Diese Lüge konnte ich keinesfalls auf mir sitzen lassen. Ich holte mit der rechten Hand aus und verpasste der sich noch immer im festen Griff der Mutter befindenden Gegnerin eine kräftige Ohrfeige. Die Klasse johlte und klatschte und die Mutter war so perplex, dass sie uns beide losließ, auf unsere Plätze zurückschickte und uns nicht einmal eine Strafarbeit gab.

      Vielleicht war es ja das. Vielleicht hatte Christiane, diese hinterhältige Kuh, ihre Mutter auf meine Mutter gehetzt. Christiane Wechslers Mutter war Juristin und arbeitete auf dem Amt. Sicher hatte Christiane den Vorfall so dargestellt, als ob ich die Schuldige gewesen sei und meine Mutter mich in Schutz genommen hätte. Und sicher hatte sich ihre Mutter daraufhin bei meiner beschwert. Und da wollte diese jetzt ein Exempel statuieren und beweisen, dass sie ihre eigene Tochter nicht schone. Aber auch ein solches Motiv entschuldigte meine Mutter in meinen Augen keineswegs. Im Gegenteil!

      Noch immer in Strafacht vor dem Klassenzimmer wartend öffnete ich das Fenster und blickte auf den Kirchplatz. Ich mochte den Kirchplatz. Ich mochte auch meine alte Schule. Und die Kirche, die rechtwinklig zur Schule stand und mit ihrem reich verzierten Portal die Breitseite des Platzes einnahm. Gegenüber der Kirche war der Kindergarten, aber dazwischen war der Platz offen, stieg leicht an und verschwand in einem schmalen Gässchen, das sich entlang der alten Stadtmauer hinzog und zeitweise unter den mittelalterlichen Häusern hindurchführte.

      Der Kirchplatz, auf den ich jetzt mit wütenden Blicken schaute, war für mich ein ganz besonderer Ort. Er war zwar auch der Schulhof, auf dem ich in den Pausen mit meinen Mitschülern tobte und im Winter manchmal von Fritz, meiner Schülerliebe, mit Schnee eingeseift wurde. Aber der Kirchplatz war auch ein geheimer Ort, den nur ich allein kannte. Vor zwei Jahren etwa, ich war damals gerade in die Oberschule gekommen, war ich eines Nachmittags im Sommer, ich weiß nicht mehr warum, alleine auf dem Platz gestanden. Ganz alleine. Kein Mensch war zu sehen. Ich hatte mich mit dem Rücken an die Mauer des Schulhauses gelehnt und schaute über den Platz, auf dem die Hitze über dem geteerten Pflaster zitterte. Ich hatte noch nie solche Stille gehört. An einem Ort, der sonst immer von Schülerlärm und Kindergekreisch erdröhnte. Auch die Kindergartenkinder waren heute zuhause geblieben. Und die Vögel schwiegen. Ich sog die Stille in mich hinein. Und die Hitze. Und das tiefklare Blau des Himmels. So einzigartig, so überirdisch waren die Stille, die Hitze, und der unbegrenzte Himmel - und der Platz vor meinen Augen -, dass ich kaum zu atmen wagte. Ich bewegte mich nicht. Ich wollte mich nie mehr bewegen. Nur meine Augen tasteten jede Einzelheit ab. Den leicht vermoderten Holzzaun um den Kindergarten, die Fratzen der Wasserspeier, die den Bogen über der Kirchentüre zierten, die alten, windschiefen Häuser am Ende des Platzes und rechts daneben, gerade noch zu sehen, inmitten eines prall blühenden Gartens das Pfarrhaus. So stand ich mit dem Rücken an das alte Schulhaus gelehnt und schaute und wollte ein Leben lang nur immer dort stehen und schauen. Doch auch dieser Moment würde ja vergehen. Die Sonne würde untergehen, Leute würden zur Abendandacht kommen und ich wurde zuhause erwartet. Irgendwie musste ich diesem Moment aber Dauer verleihen. Meine Augen suchten das Pflaster vor der Kirche ab und fanden, was sie suchten. Ich legte den kleinen spitzen Stein in die Mitte des Platzes, setzte meine rechte Sandale darauf, drückte sie so stark nach unten, dass die Spitze des Steins meine Fußsohle piekte, und drehte mich mehrmals um mich selbst. Als ob ich das Steinchen in meinen Fuß einschrauben wollte. Ein leichter Schmerz nur – aber der würde diese blaue, glitzernde Sonnenstille versiegeln. Eine Ewigkeit lang. Für mein ganzes Leben.

      Mit einem Ruck wandte ich mich um und schloss das Fenster. Auf dem Flur war niemand zu sehen. Nur aus den Klassenzimmern tönten die unterschiedlichsten Geräusche. Lautstarke Lehrerstimmen, Gegröle und Gelächter von Schülern – da wurde wohl gerade eine Klassenarbeit zurückgegeben –, mehr oder weniger wohltönendes Singen, und konzentrierte, nur vom Scharren der Füße und von gelegentlichen Seufzern unterbrochene Ruhe. Das Schulhaus in Künzelsau hatte nur sieben Klassenräume für sechs Klassen. Wobei der Chemie- und der Physiksaal sowie der Musikraum mit dem Klavier für die jeweiligen Fachstunden reserviert werden mussten. Das verlangte vom Rektor, Herrn Schmidt, der den Stundenplan erstellte, ein Höchstmaß an logistischem Können und von den Schülern, dass sie praktisch nach jeder Schulstunde das Klassenzimmer wechseln mussten. Was immer ein großer Spaß, aber auch nicht ganz ungefährlich war. Knapp 200 Schüler bewegten sich mindestens fünfmal an jedem Vormittag vom oberen in den unteren Stock, oder vom unteren in den oberen, die schmale Treppe hinunter oder herauf. Und wenn dann noch Dr. Wieser vom Chemiesaal ins Lehrerzimmer musste und die Treppe blockierte war Feierabend. Ein Gestoße und Geschiebe war das, ein Lachen und Schimpfen, und manchmal genoss man es auch, dicht an einen Schüler oder eine Schülerin heran geschoben zu werden, die man mochte.

      Ich achtete genau auf die Geräusche aus den Klassenräumen, als ich von meinem Platz am Fenster leise die Treppe ansteuerte und vorsichtig, Schritt für Schritt, um Knarren zu vermeiden, die Treppe hinunter und am Lehrerzimmer vorbei ins Freie schlich. Ich hatte mich entschieden. Weder meiner Mutter noch der dummen Christiane Wechsler gönnte ich den Triumph, dass ich am Ende der Stunde als gedemütigte Sünderin wieder gnädig in die Klasse aufgenommen würde.

      Als ich gegen Ende des Krieges in Angst um meine Mutter in den Keller gerannt war und dort betete, wusste ich eigentlich nicht, was ich tat. Ich war noch nie in einer Kirche gewesen, und außer meinem Gute-Nacht-Gebet, in dem der Name Jesu vorkam, kannte ich nichts, was mit Glauben oder Religion zu tun hatte. Der Osterhase, der die Geschenke versteckte, hatte keinerlei religiöse Bedeutung und auch das Christkind nicht. Außer vielleicht das Staunen darüber, dass es das Weihnachtszimmer auf so geheimnisvolle Weise verließ, ehe wir Kinder hineindurften. Und man es daher nie zu sehen bekam. Als die Kirchen nach dem Ende des Krieges schnell damit begannen, vor allem Kinder und Jugendliche für sich zu gewinnen, begann für mich eine ganz neue Zeit. In Künzelsau waren die meisten Menschen evangelisch, wie auch die Kirche evangelisch war, die in der Mitte des Städtchens stand und deren Glocken Tag und Nacht die Zeit verkündeten. Und jetzt wieder allabendlich und am Sonntagmorgen zum Gottesdienst riefen. Bald gab es einen Mädchenkreis für die kleinen und eine Jungschar für die älteren Mädchen und ich war eine der ersten, die die neuen Angebote wahrnahmen. Einmal in der Woche traf man sich im Gemeindehaus, spielte und sang, strickte und las im Neuen Testament – und am Sonntag ging man gemeinsam in die Kinderkirche. Ich war immer in Begleitung meiner Freundin Ruth. Bis Ruths Mutter, die katholisch war und in einer sogenannten Misch-Ehe lebte, ihrer Tochter den Besuch der evangelischen Veranstaltungen verbot.

      Immer mehr Zeit verbrachte ich in Kirche und Gemeindehaus, aber erst als Schwester Paula in Künzelsau auftauchte, wurde ich wirklich fromm. Schwester Paula war eine Frau im mittleren Alter, mit dunklen Augen und graubraunem Haar, das im Nacken in einen festen Knoten gepresst war. Schwester Paula trug immer dunkle Kleidung. Als ob sie in Trauer wäre oder