Jahrgang 1936 – weiblich. Barbara Schaeffer-Hegel. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Barbara Schaeffer-Hegel
Издательство: Автор
Серия:
Жанр произведения: Биографии и Мемуары
Год издания: 0
isbn: 9783826080616
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englischer Satz lautete daher:

      „p l e a s e sch u t te d o r“

      Das ganze Schloss war rosa angestrichen, was uns damit erklärt wurde, dass Rosa die einzige Farbe gewesen sei, die es noch gab, als es nötig wurde, das Gebäude vor dem Einzug der Napola zu verputzen. Ehe dann die kleinen Jungen in Uniform kommen konnten. Angeblich die besten ihres Jahrganges. Sie sahen wie kleine Soldaten aus und gingen, mir völlig unverständlich, immer nur neben- oder hintereinander in Reih und Glied. Man sah sie nie einzeln herumrennen oder rumtoben, nur ab und zu, von einer schreienden Stimme gezwungen, über steile, extra im Schlosshof aufgestellte Holzwände klettern oder durch Schlammpfützen kriechen.

      Aber die Jungen aus der Napola gingen uns nichts an, sagte meine Mutter. Und in der Tat, wir drei Kinder lebten, sofern es das Wetter irgendwie zuließ, im Park. Der Park hinter dem Schloss, früher einmal ein groß angelegter, hochherrschaftlicher Lustgarten, war völlig heruntergekommen. Aber ein wunderbarer Spielplatz. Mit seinen gefallenen Bäumen, die tiefe Löcher im Boden hinterlassen hatten, vor denen die herausgerissenen Wurzeln wie Vorhänge hingen; mit seinen Wiesen, die nie gemäht wurden und auf denen es niemanden gab, der uns hätte verjagen können, wenn wir beim Blumenpflücken das Gras niedertrampelten; und mit seinem Wäldchen, in dem man wunderbar Verstecken spielen konnte, war er ein Paradies für Kinder. Das Schönste im Park war jedoch die Ruine eines Wohnheimes, das für noch mehr Napola Schüler gebaut werden sollte, aber niemals fertiggestellt wurde, da es kein Material mehr gab, um irgendetwas zu bauen. Das steinerne Fundament dieses Phantomgebäudes war Leonies und mein Spielhaus und das Zuhause für unsere Puppen. Leonie, die bald meine beste Freundin wurde, wohnte mit ihrer Mutter im Stockwerk über uns. Auf dem Schrottplatz vor dem Schloss fanden wir Scherben in Hülle und Fülle, die wir zusammen mit locker herumliegenden Backsteinen, abgebrochenen Ästen und lehmiger Erde zum Bau einer perfekt eingerichteten Küche benutzten.

      Im Park gab es so viel zu tun, sodass ein einziger Tag uns nie ausreichte. Aber Mutter hatte nichts dagegen, wenn wir den ganzen Tag draußen blieben. Auch wenn an klaren Tagen manchmal Flugzeuge Wellen von Donner über den wolkenlosen Himmel schickten. Die Flugzeuge, das wusste ich, flogen zu den großen Städten, um dort Bomben abzuwerfen. Aber hier, im Park gab es keine Gefahr. Wenn der Sommerhimmel zu donnern begann und unsere Mütter uns nicht riefen, rannten Leonie und ich mit meinen Brüdern in das Waldstück des Parks und versteckten uns in einer Wurzelhöhle. Der donnernde Himmel war wohl kein gutes Zeichen. Aber das Rennen unter die Bäume und das sich Verstecken hinter den Wurzelgardinen war aufregend. Und die silbernen Flugzeuge auf dem tintenblauen Himmel sahen aus wie Schwärme von Zugvögeln, die vorzeitig nach Süden flogen.

      Die einzige Gefahr im Park war Dr. Schütz.

      Dr. Schütz war der Direktor der Napola Schule. Obwohl er nicht Mamas Direktor war – Mama unterrichtete an der städtischen Oberschule – hatte Mama uns strengstens eingeschärft, Herrn Dr. Schütz niemals zu ärgern. Wenn mir Dr. Schütz im Park begegnete, musste ich strammstehen, meinen rechten Arm nach oben werfen und rufen:

      »Heil Hitler, Herr Dr. Schütz!«,

      selbst, wenn wir gerade dabei waren, unsere Puppen schlafen zu legen. Wenn ich einmal vergaß, Dr. Schütz zu grüßen oder ihn gar nicht gesehen hatte, wusste meine Mutter das immer und schimpfte mich abends. Mama wurde dann richtig ärgerlich. Dr. Schütz war allmächtig. Alle hatten Angst vor ihm. Ich merkte es daran, dass die Leute, wenn sie mit ihm sprachen, ihre Stimme senkten. Und niemand würde es je wagen, ihn als erster anzusprechen. Außer natürlich mit dem obligatorischen Gruß

      »Heil Hitler, Herr Dr. Schütz!«,

      den bei ihm niemand zu einem nachlässigen »Ha hit la!« verwischte, was sonst durchaus üblich war.

      Ich konnte Herrn Dr. Schütz nicht leiden.

      Schon, weil Mama Angst vor ihm hatte konnte ich ihn nicht leiden. Ich wusste nicht, warum Mama Angst vor ihm hatte. Dr. Schütz, dachte ich, musste jemand sein, der Dinge geschehen lassen konnte, die anderen Leuten nicht möglich waren und die ihnen vielleicht schaden konnten. Und Dr. Schütz war nie freundlich. Er war böse. Dr. Schütz hatte mich noch niemals angesprochen, aber ich wusste, dass er böse war.

      Eines Tages im April 1945 wurde ich schon mittags von meiner Mutter ins Haus gerufen. Am Nachmittag hatten Flieger den Himmel mit nicht endendem Gedröhn zerschnitten. Sie kamen jetzt jeden Tag. Mama und Toni waren bekümmerter als je. Die Luftangriffe, von denen ich geglaubt hatte, sie gehörten nur zu den Städten, trafen nun auch uns. Immer häufiger füllten die Luftschutzsirenen mit ihrem schrillen Heulen die Nacht. Mama bestand darauf, dass wir in unseren Kleidern schliefen. Wenn dann die Sirenen loslegten, mussten wir mitten in der Nacht aufstehen und mit den anderen Hausbewohnern in den Keller gehen, wo es seltene Süßigkeiten gab und Salzgebäck, das ich vorher noch nie gekostet hatte. Obwohl ich die nächtlichen Stunden im Luftschutzkeller sehr lustig fand, begann ich zu begreifen, was das bedeutete: KRIEG. Da ich eine Welt ohne Flugzeuge nicht kannte war es schwer, mir ein Leben ohne KRIEG vorzustellen. Das Wort FRIEDEN kannte ich schon, aber es blieb mir ein Fremdwort. Aber jetzt ahnte ich, dass die Flieger, und unser verbranntes Haus in Kassel, und die nächtlichen Exkursionen in den Keller etwas mit dem KRIEG zu tun hatten und dass er gefährlich war. Wie sehr gefährlich er war, sollte ich bald darauf noch selber erfahren.

      Denn jetzt gab es auch Flieger, die ganz niedrig fliegen konnten und die auf der Straße Fahrzeuge und auch Menschen beschossen. Als ich eines Tages alleine eine menschenleere Straße entlangging, um Mama von ihrer Schule abzuholen, kreiste plötzlich ein solcher Tiefflieger über meinem Kopf. Und weit und breit keine Wurzelhöhle, in der ich mich verstecken konnte. Ich war zu Tode erschrocken, öffnete das nächstgelegene Gartentor und kroch in dem fremden Garten unter einen Busch. Noch nie war ich in den Garten eines fremden Hauses eingedrungen und noch nie hatte ich mich, wie jetzt, in einem fremden Garten unter so komisch stechende Zweige gequetscht. Das Flugzeug hatte mich sicher gesehen und würde nun auf mich schießen.

      Das Flugzeug kreiste eine ganze Weile über mir, als überlege es, ob es sich lohnte mich zu erschießen. Dann spritzte es eine lange Reihe walnussgroßer Löcher in das Straßenpflaster vor dem Gartentor und machte sich davon.

      Von dem Tag an wusste ich was KRIEG war und hasste ihn. Der Hass wurde noch größer, als zwei Wochen später Mama und Leonies Mutter einen Großteil der Lebensmittel, die sie gehortet hatten, in zwei große Waschkörbe packten und diese zusammen mit ihren insgesamt vier Kindern in das Haus von Frau Wagner verfrachteten, die meine Mutter von irgendwoher kannte und die mit ihrem Sohn am westlichen Abhang des Tals wohnte. Wir Kinder durften jetzt das Haus nicht verlassen, denn draußen strich die Schießerei fast den ganzen Tag lang über unsere Köpfe hinweg. Auf der Höhe hinter uns, auf dem Nagelsberg, saßen die Amerikaner mit schweren Geschützen und offenbar mit sehr viel Munition. An dem Abhang auf der gegenüberliegenden Seite des Tals kam immer wieder Feuer und Rauch aus dem Wald. Mama sagte uns, dass sich deutsche Truppen dort verschanzt hätten.

      Wenn das Schießen um die Mittagszeit zum Stillstand kam, ließ Mama uns einen Moment in den Garten gehen. Mit einem Feldstecher konnten wir die amerikanischen Kampfkanonen sehen, die aus den Häusern weit oberhalb unseres Hauses in die Luft starrten.

      Nach etwa einer Woche waren die mitgebrachten Lebensmittel aufgebraucht. Mama und Leonis Mutter mussten einen neuen Korb holen. Im Keller des Schlosses hatten sie noch Reserven. Der Weg zum Schloss führte durch das Kochertal über den Fluss. Von dort war es bis zum hinteren Parkeingang des Schlosses nicht sehr weit. Aber unsere Mütter mussten den Fluss überqueren, über den es keine Brücke gab. Nur ein Floß. Alle Brücken im Kochertal waren von den Deutschen gesprengt worden, um dem Feind den Übertritt über den Fluss zu verwehren. Als Mama und Leonies Mutter mit ihrem gefüllten Korb vom Schloss zurückkamen, hatte jemand das Floß auf die andere Seite des Flusses gezogen. Tiefflieger waren unterwegs. Ganz offensichtlich hatten sie die beiden Frauen schon ausgemacht und schossen auf sie. Dann ließen sie etwas fallen, was als lilafarbener Nebel wie eine Giftwolke den Berg hinunterrollte und die Badehütten umhüllte, unter denen sich – mein Bruder Peter hatte das mit dem Feldstecher beobachtet –, unsere Mütter versteckt hatten. Meine Seele schoss zum Fluss hinunter, kroch in die violette Wolke und versuchte, meine Mutter herauszuziehen. Aber wenn mir das gelingen würde, würden