Die List der Schildkröte. Elisabetta Fortunato. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Elisabetta Fortunato
Издательство: Readbox publishing GmbH
Серия:
Жанр произведения: Зарубежные детективы
Год издания: 0
isbn: 9783946435860
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Pflicht …«

      »So kommen wir nicht weiter!«, rief Giovanna in die Runde. »Seid still, ich will den Brief noch einmal lesen.«

      Sie atmete tief ein und zog das unselige Schreiben zu sich.

      Es gäbe qualche problemino mit der Bank, hatte ihr Freund zwischen zwei pikanten Fragen über Sonny gesagt, sie bräuchten ihre Hilfe. Allein diese Formulierung ›ein paar kleine Problemchen‹ hätte sie hellhörig werden lassen müssen. Statt ins Liebieghaus zum Professor war sie mit Tommaso direkt in den Verlag gefahren, wo Joschka schon wartete. Dass sie nicht lachte! Eine Katastrophe war das und ihre Freunde waren offenen Auges hineingelaufen.

      Leider änderte auch das zweite, und danach ein drittes Lesen, nichts am Inhalt des Schreibens. Die Kreditlinie des Verlags lief in einem Monat aus und ein Folgekredit konnte, wegen der neuen europäischen Vergaberichtlinien, nicht mehr unter den bisherigen Bedingungen genehmigt werden. Die Bank benötigte zahlreiche Unterlagen, damit die Bewertungs- und Vergabefristen gewahrt werden konnten. Ansonsten würden bei Vertragsablauf die auf der folgenden Seite zusammengerechneten Verbindlichkeiten fällig.

      Giovanna schauderte, als stünde sie ohne Mantel mitten in einem Schneegestöber. Dass die finanzielle Situation des Verlags schlecht war, hatte sie die ganzen Jahre an den mageren Einkünften erkannt. Doch dass die Schulden im hohen, sechsstelligen Bereich lagen, hatte sie nicht einmal geahnt. Was sie genau wusste war, dass Tommaso und Joschka das Geld nicht hatten, falls sie den Kredit zurückzahlen mussten.

      Ohne ihre wachsende Verärgerung zu verstecken, stand sie auf, lief ans Fenster, dann wieder zurück. Nicht ohne einige herumliegende leere Kartons mit ein paar Fußtritten aus dem Weg zu räumen. Dieser Schlamassel hätte verhindert werden können, wären ihre zwei Chefs nur ein wenig ordentlicher und organisierter. Einen Brief von der Bank nicht lesen! Was würde aus ihnen, wenn sie InternazionARTE verließ? Die beiden saßen noch am Tisch, hatten sich aber voneinander abgewendet. Jeder schaute in eine andere Ecke. Ihr schien, als seien sie in der letzten halben Stunde geschrumpft, so, als hätte die Hiobsbotschaft sie niedergedrückt. Tommaso und Joschka hatten ihr ganzes Geld und all ihre Kräfte in ihren kleinen Verlag gesteckt, aus der Überzeugung heraus, dass politische, gesellschaftliche und finanzielle Ungerechtigkeiten beim Namen genannt und öffentlich gemacht werden mussten. Der Verlag durfte unter keinen Umständen geschlossen werden!

      Giovanna verglich noch einmal die Daten und rechnete nach. Ihren Freunden blieb genau eine Woche, um die geforderten Unterlagen – die es alle nicht gab! – zu erstellen und diese dem Steuerberater zum Prüfen und Ergänzen zu geben. Gleichzeitig musste ein Termin mit der neuen Beraterin vereinbart werden, um sie von der Kreditwürdigkeit von InternazionARTE zu überzeugen. Kurz kam ihr das eigene Konzept in den Sinn, das sie noch für das Vorstellungsgespräch vom nächsten Tag vorzubereiten hatte. Die Zeit wurde immer knapper. Aber konnte sie ihre Freunde in dieser Situation alleine lassen? Die Menschen, die ihr geholfen hatten, als sie nach der bitteren Absage aus dem Liebieghaus weder eine Arbeitsstelle noch ein Selbstwertgefühl gehabt hatte? Mit einem Blick auf die Uhr vergewisserte sie sich, dass das Museum längst geöffnet hatte, folglich das Ausstellungsstück an seinem vorgesehenen Platz stand und der Professor eingespannt war in seiner Arbeit als Kurator.

      Die Entscheidung war gefallen. Karl-Friedrichs Ergebnisse mussten bis zum Abend warten. Im Notfall würde sie die Nacht durcharbeiten und sich durch die Präsentation schlängeln. Nicht umsonst stammte sie aus einem Land, das die Kunst des arrangiarsi – des sich Zurechtfindens – regelrecht zelebrierte. Ihre Freunde, die zwei Chaoten, würde sie nicht in Stich lassen.

      »Al lavoro«, rief sie, »wir haben viel zu tun!«

      Am frühen Abend brachte ein Taxi sie nach Hause und es grenzte an ein Wunder, dass sie lebend ankamen. Der Fahrer war durch die Stadt gerast, während er indische Schnulzen sang und sorglos von einer Fahrspur zur anderen wechselte. Ohne ein einziges Mal zu blinken. In der Kronberger Straße öffneten sich statt einer gleich drei Autotüren. Ihre Chefs hatten zwar vorgehabt, sich zum Steuerberater fahren zu lassen, jetzt aber meinten sie, dass ihnen das Risiko einer gebrochenen Hüfte lieber war, als der sichere Tod.

      »Das ist deine Chance morgen, nutze sie gut«, sagte Joschka und drückte ihr als Dank für ihre Hilfe eine Flasche Passito di Pantelleria in die Hand. Mit Blick auf die zugeschneite Hofeinfahrt blieb er am Gartentor stehen. Tommaso griff nach ihrem Arm und zusammen staksten sie Richtung Haustür.

      Aus der hohen Fensterfront des Kulturvereins im Erdgeschoss ihres Wohnhauses fiel warmes Licht in den verschneiten Vorgarten. Der Schnee, der auf den sonst struppigen Sträuchern lag, war unberührt und sauber und es sah aus, als ob über allem eine Schicht Goldstaub läge. Der bissige Wind vom Morgen war verschwunden, es schneite dicht und lautlos. Giovanna glaubte, Pingpongbälle vom Himmel fallen zu sehen, so groß waren die Flocken. Sie streckte die Zunge aus und versuchte, einzelne davon zu fangen. Das Kalte und Schmelzende beruhigte ihren von der Fahrt überreizten Magen. Mit den Stiefeln begann sie, den Schnee in der Einfahrt aufzuwerfen.

      »Piano«, mahnte Tommaso.

      Vor der Haustür drückte er sie lange an sich. »Meine liebe Giovanna, danke, dass du uns hilfst. Wieder einmal, muss ich sagen. Ohne dich wird der Verlag nicht mehr derselbe sein.« Er umarmte sie ein zweites Mal, dann drehte er sich um und verschwand mit langsamen Schritten hinter dem Schneevorhang.

      Ein alter, trauriger Mann, dachte Giovanna. Ihr Herz verkrampfte sich, obwohl sie vor Freude hätte schreien müssen, denn endlich stand etwas an, worauf sie vier lange Jahre gewartet hatte. Programmleiterin für deutsch-italienische Publikationen. Wie gut sich das anhörte! Nicht in einem politischen Nischenverlag wie InternazionARTE, wo sie als Mädchen für alles gearbeitet hatte, sondern bei Durond, einem renommierten Kunstbuchverlag. Die erste richtige Stelle, seit sie in Deutschland war. Ihr Mann würde staunen, wenn er davon erfuhr. Mit der Schulter drückte sie die schwere Haustür auf, ohne sie aufschließen zu müssen. Wie immer gefror das Schloss bei Kälte und hakte nicht mehr ein.

      Vor der eigenen Wohnung stellte sie ihre große Umhängetasche und die Flasche mit dem Dessertwein auf den Boden und suchte nach dem Schlüssel. Jetzt wollte sie sich nur umziehen und gleich zum Professor hochgehen.

      Der Schlüsselbund war im Durcheinander der Tasche nicht zu finden. Dafür entdeckte sie eine leere Spritzenverpackung, die leicht im Luftzug des Treppenhauses flatterte. Sie hatte sich zwischen Fußmatte und Haustür verfangen. War Maria die Tüte kaputt gegangen, als sie tagsüber den Müll aus Karl-Friedrichs Wohnung heruntergebracht hatte? Giovanna zog das Papier heraus und wuchtete die volle Tasche auf die Türklinke, da ging ihre Wohnungstür auf.

      Toll, wegen Tommaso hast du heute Morgen vergessen, abzuschließen.

      Sie griff nach der Flasche und betrat ihre Wohnung.

      Zigeuner und Diebe, dass ich nicht lache.

      Die wirkliche Gefahr ging von ihm aus, nur wusste es ihr bester Freund nicht.

K6

      Wenig später verließ Giovanna ihre Wohnung und stieg zum Professor hoch. Unter dem Arm hatte sie sich die Flasche Passito geklemmt, die sie mit ihm trinken wollte. Von oben hörte sie die Nachbarn vom dritten Stock die Treppe heruntersteigen. Das pensionierte Lehrerpaar spionierte eifrig für die Hausverwaltung, zum Leidwesen der gesamten Hausgemeinschaft. Um ihnen nicht zu begegnen, rannte Giovanna die letzten Stufen hoch, klingelte wie immer zweimal kurz hintereinander und drückte die Klinke zu von Schachts Wohnung. Die Tür war unverschlossen, also war er zu Hause.

      »Karl-Friedrich, ich bin’s«, rief sie in die dunkle Wohnung, dann ging das Licht im Treppenhaus aus.

      Aus der Wohnung strömte warme Luft und trug einen schweren Geruch mit sich. Auf die bekannte Mischung von feuchtem Hundefell und verstaubten Büchern hatte sich eine süßliche Decke gelegt. Sofort wurde ihr schlecht, wie damals, wenn der Großvater sie in den Keller rief, um sie mit dem Kopf eines frisch geschlachteten Schweins zu erschrecken.

      Bevor sie die Türklinke loslassen und einen Schritt zurücktreten konnte, ging das Licht