Und ich erst, dachte Giovanna.
Jede hing den eigenen Gedanken nach.
»Der Professor, tot.« Maria schüttelte noch einmal den Kopf. Dann putzte sie sich energisch die Nase, stand auf und mit dem tiefgefrorenen Gemüse, das sie mitgebracht hatte, kochte sie für beide eine Gemüsesuppe.
Es war die traurigste Minestrone, die Giovanna je gegessen hatte.
Erst am späten Nachmittag war Giovanna wieder alleine. Sie machte sich einen Kaffee, im Hintergrund lief das Radio. Das, was Maria gesagt hatte, ging ihr nicht aus dem Kopf. Was hatte Peter Neuhaus am Morgen nach der Vernissage beim Professor gewollt? Die zwei waren sich so spinnefeind, dass sie sich nicht einmal grüßten, wenn sie sich im Museum über den Weg liefen.
»… zutiefst bestürzt bin, dass die Gerüchte, die seit Längerem über unseren Kurator, Professor Karl-Friedrich von Schacht, im Umlauf waren, sich auf traurige Weise zu bestätigen scheinen … Kunstraub, Hehlerei und falsche Zertifizierungen für illegal gegrabene Antiken sind ein lukratives Geschäft und haben schon in der Vergangenheit nicht vor renommierten Wissenschaftlern Halt gemacht. Auch die Polizei …«
Giovanna erstarrte. Die Stimme des Direktors. Was sagte er da?
Als der Radiobericht zu Ende war, hätte sie am liebsten laut geschrien. Die Demontage ihres Freundes hatte angefangen, noch bevor der Mann unter der Erde lag! Doch je mehr sie sich über die Worte von Peter Neuhaus ärgerte, desto mehr beunruhigten sie die Vorwürfe. Wussten er und die Polizei Dinge, die sie nicht wusste? Sie musste dringend mit jemandem darüber reden. Giovanna überlegte kurz, dann machte sie sich zurecht und verließ die Wohnung. Hoffentlich war Tommaso noch im Verlag.
Zu spät merkte sie, dass sie in die falsche U-Bahn eingestiegen war. Doch statt zurückzufahren, beschloss sie, einen Abstecher ins Liebieghaus zu machen. Sie wollte persönlich mit dem Direktor über das Radiointerview sprechen. Als sie an der Hauptwache schnaufend die kaputte Rolltreppe hochstieg, fielen die ersten Regentropfen.
Sieh es positiv, versuchte sie sich zu motivieren. Frische Luft hat noch keinem geschadet.
Auf dem Römer kam der Hagel.
Am liebsten hätte sich Giovanna geohrfeigt. Statt die große Verschwörung gegen den Professor aufzudecken, stand sie ohne Regenschirm unter einer kahlen Platane und holte sich gerade eine Lungenentzündung. Der Hagelschauer hatte sie brutal erwischt. Die Locken klebten nass am Kopf und unentwegt lösten sich dicke Tropfen aus den vollgesogenen Haarspitzen und flossen ihr kalt über die Stirn und in die Augen. Zum wiederholten Mal zog sie ein feuchtes Taschentuch aus der Jackentasche und trocknete sich notdürftig das Gesicht ab. Unschlüssig schaute sie über die Straße zum Liebieghaus hinüber, von dem sie nur die Giebeldächer des alten Hauptgebäudes sah, so hoch und kompakt war die Parkmauer gebaut. Eine uneinnehmbare Festung, wieder einmal. Sogar die Schneeflocken, die nun nach dem Hagelschauer übermütig im leichten Wind herumwirbelten, schienen sich über sie zu mokieren.
Vielleicht war es besser, dass sie nicht sofort ins Museum gestürmt war. Wie hätte sie Karl-Friedrich auch verteidigen sollen? Indem sie dem Direktor sagte, dass von ihnen beiden der Professor der fähigere Wissenschaftler war? Dass dieser nach der Untersuchung am Kultwagen als Gewinner aus ihrem langjährigen Disput über die Rolle der Frau bei den vorrömischen Völkern hervorgegangen wäre? Dass nicht nur er, sondern auch sie, Giovanna, über die Gerüchte um falsche Zertifizierungen Bescheid wusste, die über ihn, Peter Neuhaus, im Umlauf waren und nicht über ihren integren Freund, der sich nicht mehr gegen die haltlosen Anschuldigungen wehren konnte, weil er tot in einem Kühlfach lag?
Sie hätte nicht sagen können, ob Wassertropfen oder Tränen schuld waren, dass sie nur noch verschwommen sah. Aber als plötzlich Leben ins Museum kam und eine Handvoll Mitarbeiter aus dem Tor heraustrat, kam ihr keiner bekannt vor. Hektisch suchte sie nach ihrem Taschentuch, doch bevor sie es gefunden und sich damit die Augen abgewischt hatte, waren die Leute schon weg.
Es war Zeit, nach Hause zu gehen.
Da trat ein blasser Mann in einem zu großen Mantel auf die Straße. Er stellte sich an den Bordsteinrand und schaute sich suchend um. Giovannas Herz schlug augenblicklich schneller. »Herr Neu…«
Ihr Ruf ging im Geräusch einer bremsenden Limousine unter. Der Wagen blieb mitten auf der Straße stehen, obwohl die Fahrer hinter ihm wütend hupten. Schnell überquerte sie, von weiterem Hupen begleitet, den stark befahrenen Untermainkai.
Auf der anderen Seite drückte sie sich hinter einen Parkscheinautomaten. Direktor Neuhaus diskutierte mit jemandem im Fond des Wagens. Als er sich wieder aufrichten wollte, schoss plötzlich eine behandschuhte Hand heraus und packte ihn fest am Kragen. Giovanna wollte sehen, wer den langen, schmalen Lederhandschuh trug und den schwarzen Pelz, der modisch kurze Ärmel hatte. Aber die Hand hatte den Direktor schon wieder losgelassen, und das Fenster schloss sich. Die Limousine fuhr los.
Obwohl jetzt die Gelegenheit gewesen wäre, Peter Neuhaus zur Rede zu stellen, näherte Giovanna sich ihm nicht. Unerwarteterweise hatte sie die Scheu gepackt, sich nach dieser Szene bemerkbar zu machen. Als würde sie damit den Mann doppelt entwürdigen. Sie schlüpfte in den Park des Liebieghauses und stieß fast mit einer schmächtigen Gestalt zusammen. Beide hielten in der Bewegung inne, dann eilte der Kobold wortlos weiter. Vor ihrem inneren Auge erschien das Bild einer Kordel, die vom Haken gelöst wurde, damit sie und der Professor vor der Vernissage zum bronzenen Kultwagen treten konnten. Giovanna erkannte die Person: Unter dem dicken Regenschutz versteckte sich die Frau von der Aufsicht, die sie durchgelassen hatte. Wie hieß sie noch mal?
»Halt!«
Die Gestalt drehte sich kurz um, dann eilte sie mit gesenktem Kopf weiter.
»Warten Sie, Frau …« Die Museumsmitarbeiterin beschleunigte ihre Schnitte. Giovanna sprintete los und holte sie keuchend ein. »... Henkel!«
Sie sah den verärgerten Gesichtsausdruck, Frau Henkel hatte sie sehr wohl erkannt und wollte an ihr vorbeihuschen, aber Giovanna hielt sie am Ärmel fest. Der wortlose Kampf dauerte ein paar Sekunden, dann ließ die Spannung in den Muskeln der Frau nach. Giovanna hatte gewonnen, vorerst.
»Laufen wir ein Stück.«
Sie legte der Museumsangestellten einen Arm um die Schulter und zog sie mit.
Tommaso war der Erste, der anrief. »Ich warte seit zwei Stunden auf dich.«
Giovanna hatte soeben Frau Henkel an der Hauptwache verabschiedet und lief raschen Schrittes durch die Freßgass. Sie wollte nach Hause, in die Wärme. »Tommà, hör auf, meine Mutter zu spielen. Im Museum passieren merkwürdige Dinge.«
»Und in den Medien erst! Es scheint, als hätte dein Liebling mit seinem Interview die Büchse der Pandora geöffnet.«
»Che stronzo – Was für ein Mistkerl! Weißt du, dass er sogar seinen Mitarbeitern verboten hat, mit mir zu reden?«
»Jetzt übertreibst du.«
»Doch! Heute Nachmittag hat er alle Mitarbeiter zusammengerufen und gesagt, dass sie ihre Stelle verlieren, wenn sie mit der Presse oder der Bekannten von Karl-Friedrich reden. Schließlich sei davon auszugehen, dass er für die Tat über Komplizen außerhalb des Museums verfügt haben muss. Und da ich die einzige Person bin, mit der der Professor befreundet war …«
»Auch die Medien sind davon überzeugt, dass von Schacht den Kultwagen gestohlen hat.«
»Die Medien, die Medien. Ich sag dir jetzt ein paar Sachen aus dem Museum, die die Medien zurückhalten. Unzensierte Infos, sozusagen.«
»Joschka hat es schon immer geahnt: Berlusconi hat Deutschland erobert und keiner hat es gemerkt.«