»Stimmt, aber die Fantasie ist der Realität oft voraus.«
Nach Joschkas Worten trat eine Pause ein, die jeder auf seine Weise nutzte. Tommaso drehte sich eine neue Zigarette, Joschka schenkte sich Grappa nach und Giovanna stellte sich ans Fenster.
Was für ein Chaos, dachte sie. Warum war sie nicht von der Bar direkt zu Karl-Friedrich gegangen, statt sich auf Sonny einzulassen? Mehr noch, warum hatte sie nicht schon im Museum versucht, den Professor umzustimmen? Der Direktor, das Kuratorium, sogar die Polizei hätten auch über die telefonische Warnung informiert werden müssen, noch am selben Abend. Dann wäre jetzt das Hauptausstellungsstück an seinem Platz … und der Professor vielleicht am Leben.
Sie schaute hinaus. Auf der anderen Seite des Hofes stand ein mehrstöckiges Mietshaus mit Balkonen voller Satellitenschüsseln. Als sie bei InternazionARTE angefangen hatte, waren sie hauptsächlich gegen Südwesten gerichtet gewesen, jetzt zeigten sie fast ausschließlich nach Südosten. Sehnsuchtsschüsseln nannte sie Tommaso, wenn er zu viel getrunken hatte.
Giovanna drehte sich vom Fenster weg. »Karl-Friedrich wäre gestern unter allen Umständen ins Museum gefahren. Kein Kurator der Welt fehlt am ersten Ausstellungstag! Schon gar nicht bei einer so großen und bedeutenden Ausstellung über die Dauner. Es war seine Ausstellung, versteht ihr? Zum ersten Mal wurde das Grab der Fürstin von Arpi in seinem Grabungskontext gezeigt. Außerdem wollte er den bronzenen Kultwagen genauer untersuchen. Er hatte eine Vermutung und suchte nach Beweisen. Hätte er sie gefunden, wäre die komplette Geschichtsschreibung der vorrömischen Völker auf den Kopf gestellt worden!«
»Dann erzähl uns noch einmal von dem Anruf. Was genau hat dir der Professor gesagt?«
Tommaso zündete sich direkt an der aufgerauchten Zigarette eine neue an.
»Dass er am Dienstagnachmittag einen merkwürdigen Anruf von seinem ehemaligen apulischen Ausgrabungshelfer Antonio bekommen hätte.«
»Und weiter?«
»Nichts weiter. Erstens muss der Mann so stark gehustet haben, dass von Schacht nicht alles verstanden hat. Zweitens wollte er unter keinen Umständen mit dem Direktor sprechen, obwohl ich ihn dazu gedrängt habe. Und drittens hatte er sich schon mit einer Expertin für süditalische Kunst verabredet, die einfliegen sollte. Mein Eindruck war, dass Karl-Friedrich die Warnung über einen bevorstehenden Diebstahl des Kultwagens nicht richtig ernst genommen hat. Er meinte sogar, dass man einem Lügner nicht mehr trauen könne.«
»Auch in Michael Douglas’ Jagd nach dem grünen Diamanten fängt alles mit einem Anruf an!«, rief Joschka dazwischen.
»Da geht es doch …« Weiter kam sie nicht.
»So ein Anruf kann alles und nichts bedeuten«, fuhr Tommaso fort, als hätte er sie beide gar nicht gehört. »Denunzianten gibt es auf der ganzen Welt, warum nicht auch in Apulien? Es kommt ja nicht von ungefähr, dass dort, wo die Griechen ihre Spuren …« Schwerfällig stand er auf und sammelte die schmutzigen Kaffeetassen ein. Dann begann er, sie im Spülbecken zu waschen. »Ach, was rede ich um den heißen Brei herum. Giovà, gab es diesen Anruf wirklich?«
Giovanna schlug mit der Hand auf den Tisch. »Fängst du schon wieder damit an? Wenn die Gerüchte über Direktor Neuhaus’ käufliche Zertifizierungen nie bewiesen worden sind, heißt das noch lange nicht, dass Karl-Friedrich sie erfunden hat.«
»Wenn es nur diese Geschichte wäre!« Mit dem Schwamm in der Hand kehrte er zu ihnen an den Tisch zurück, ohne zu bemerken, dass schaumige Tropfen auf den Boden fielen, »Findet ihr es nicht merkwürdig, dass die zwei Sachen gleichzeitig passiert sind?«
»Du kannst doch nicht Knoblauch mit Zwiebeln vergleichen!«
»Er hat recht«, sagte Joschka. »Zufälle gibt es nur in Märchen oder in der Bibel.«
»Zu unser aller Erinnerung: Der Professor ist tot und der Kultwagen weg. Also, noch einmal, gab es diesen Anruf wirklich?« Die Aschespitze, die immer länger geworden war, brach beim Reden ab und landete auf Tommasos Pyjamaoberteil. Während dieser mit dem Geschirrschwamm den verschmutzten Stoff zu säubern versuchte, überlegte Giovanna fieberhaft. Wie konnte sie beweisen, dass von Schacht die Wahrheit gesagt hatte?
»Sicher ist die Nummer auf der Anruferliste gespeichert!«
»Dann informiere sofort die Polizei, was es damit auf sich hat.«
Das Klingeln ihres Handys unterbrach ihre Diskussion. Die Tierklinik. Froh über die Unterbrechung nahm Giovanna ab und ging ins Wohnzimmer. Als sie kurz darauf in die Küche zurückkam, stand Joschka schon vor dem Herd und verkündete: »Wisst ihr was? Ich mache uns Porridge zum Frühstück.«
Tommaso sah aus, als hätte er einen Zigarettenstummel verschluckt.
»Ich muss in die Klinik«, antwortete Giovanna, insgeheim froh, auch diesmal Joschkas zweifelhaften Kochkünsten entfliehen zu können. »Der Tierarzt will mit mir über Barnis Verletzungen sprechen.«
Bevor sie die Wohnung verließ, hielt Tommaso sie noch einmal zurück.
»Es tut mir leid, dass du gestern meinetwegen die Vernissage so früh verlassen hast. Sonst hättest du im Museum auf den Professor gewartet, und dann wäre er vielleicht noch am Leben.«
Eine glitschige Krake legte sich auf Giovannas Stimmbänder. Wortlos trat sie auf ihren Freund zu und umarmte ihn, so fest sie konnte.
Als sie zwei Stunden später die Tür aufschloss, kam ihr die eigene Wohnung fremd vor. Erleichtert sah sie, dass sie Nachrichten auf dem Anrufbeantworter hatte und hörte ihn ab. Ein Kommissar, der seinen Besuch ankündigte, und ihr Mann.
Mehrmals spielte sie seine Nachricht ab. Hinter Julius Worten war der Lärm der Hongkonger Straßen zu hören, einige hastige, auf Chinesisch gesprochene Worte. Die Sehnsucht nach ihm überwältigte sie. Wieso war er nicht hier? Er hätte sicher gewusst, was jetzt zu tun war. Im Gegensatz zu ihr, die wie ein Kreisel von den unbegreiflichen Ereignissen aufgezogen und schutzlos den Zentrifugalkräften ausgesetzt wurde. Sie wählte seine Nummer, aber sofort sprang die Mailbox an. Ohne eine Nachricht zu hinterlassen, beendete Giovanna den Anruf.
Wenig später klingelte es zweimal an der Tür und jemand schloss umständlich auf. Maria. Sie kam direkt in die Küche gestiefelt und stand da, von Kopf bis Fuß in Schwarz, in der einen Hand mehrere Plastiktüten, in der anderen die Post. Seit ihre Mutter vor fast dreißig Jahren gestorben war, trug Maria Schwarz. Sommer wie Winter. Ab und zu fragte Giovanna spaßeshalber, was sie bei der Beerdigung ihres Mannes Pietro anziehen würde, trug sie doch schon jetzt lutto, Trauerfarbe. Jedes Mal antwortete sie ihr mit einem undefinierbaren Glitzern in den Augen: »Dann ziehe ich mir farbige Kleider an und heirate wieder.« Dabei lachte sie, ihr Mann lachte, auch Giovanna lachte mit, obwohl sie nicht sicher war, ob es die Frau nicht sogar ernst meinte.
Diesmal passte die Farbe ihrer Kleidung zum Anlass.
»Il professore«, weiter kam Maria nicht. Sie begann so herzzerreißend zu weinen, dass Giovanna erschrocken aufsprang und zu ihr lief.
Sie musste sie lange trösten.
Erst bei einer Tasse Espresso beruhigte sich die Neapolitanerin, und mit vom Weinen geröteten Augen erzählte sie Giovanna, dass die Polizei sie am Vormittag aufgesucht und zum Professor befragt hatte.
»Hätte ich mir gestern nur auf die Zunge gebissen, Signora Greifenstaina!«, rief sie verzweifelt und hielt sich die Hände vors Gesicht.
Nachdem sie bei Giovanna gewesen war, erzählte sie, habe sie im Hauseingang auf ihren Mann Pietro gewartet. Da sei ein Mann gekommen, der beim Professor klingeln wollte. Sie habe ihm gesagt, er sei nicht zu Hause, sie wisse es, schließlich sei sie die Putzfrau. Der Mann bedankte sich und ging wieder weg.
»Ja, und? Der …«
Maria fuhr ihr über den Mund. »Die Polizei hat mir gesagt, dass der Mann ein Museumsdirektor ist. Wenn der hochgegangen wäre, hätte er sicher gemerkt, dass etwas nicht stimmt. Einer wie er ist lange zur Schule gegangen, nicht so wie ich.«
Giovanna