»Ich bin immer noch nicht überzeugt«, meinte Tommaso. »Das wäre doch bewusste Täuschung.«
»Nein, Rufmord. Unser lieber Direktor hat gute Arbeit geleistet.«
»Und du bist sicher, dass die Überwachungskameras nichts hergeben?«
»Der Blackout von Dienstagabend hat offiziell alle Aufnahmen gelöscht.«
»Ist das technisch überhaupt möglich?«
»Keine Ahnung! Tatsache ist, dass seit den drastischen Kürzungen des Museumsbudgets in den letzten Jahren das Überwachungssystem nicht mehr regelmäßig gewartet wurde.«
»Was ist also das Problem?«
»Es gibt mehrere Probleme: Frau Henkel hat gesehen, wie der Direktor persönlich nach dem Blackout das Überwachungssystem auf seine Funktionsfähigkeit kontrolliert und Entwarnung gegeben hat und alle Museumsmitarbeiter, wie der Professor nach der Veranstaltung den Bronzewagen von seinem Sockel entfernt und …«
»… in den Tresorraum gebracht hat?«
»Das ist ja das Rätsel!«, antwortete Giovanna. »Logischerweise haben die gestern Morgen als Erstes da gesucht. Aber der Bronzewagen war weg und nirgendwo gab es Zeichen von Einbruchsspuren. Hier kommt Karl-Friedrich wieder ins Spiel. Natürlich wusste niemand außer mir, dass er den Kultwagen genauer untersuchen wollte. Doch auch er hätte das Exponat nie verrückt, wenn er es nicht gleich untersuchen wollte. So etwas tut man nicht. Es ist nicht professionell. Jetzt hoffen sie, dass ihn jemand beim Verlassen des Museums gesehen hat.«
»Wieso das denn?«
»Damit sie verstehen, wie er den Kultwagen hinausgeschmuggelt hat.«
»Die Sache wird ja immer undurchsichtiger. Warten wir ab, was die Polizei dir morgen sagen wird.« Ihr Freund machte eine Pause, dann räusperte er sich. »Giovà, bevor ich die Sache vergesse …«
So wie er anfing, wusste sie, dass er die Sache nie vergessen hätte.
»Der Steuerberater hat angerufen. Er braucht unsere Unterlagen früher als verabredet. Wenn er sie nicht bis Montag hat, schafft er es nicht, sie vor seinem Urlaub fertig zu machen. Du tust uns noch diesen Gefallen, nicht wahr?«
»Habe ich euch Holzköpfe je in Stich gelassen? Aber ich muss zuerst nachdenken, mir platzt sonst der Kopf vor lauter Unklarheiten. Weißt du, dass Barni zwei große Prellungen hatte?«
»Ich mache dir einen Vorschlag: Komm zu uns in die Leipziger Straße. Joschka trifft sich mit ein paar Verlegerfreunden und ich gehe gleich runter zum circolo. Außerdem«, er legte eine verheißungsvolle Pause ein, »wartet im Ofen ein Teller mit baccalà e patate auf dich.«
Stockfisch mit Kartoffeln und Tomaten geschmort, so wie die Neapolitaner ihn aßen. Er hatte recht, was sollte sie alleine zu Hause?
Das Schrillen der Klingel unterbrach ihr Gespräch, die kommunistischen Veteranen vom Circolo Di Vittorio waren da. Tommaso sagte noch, dass sie später weiterreden würden, dann hängte er auf.
Giovanna quälte sich über den zugigen Opernplatz. Sie spürte ihre Füße nicht mehr und hatte Angst, zusammenzubrechen und auf der Stelle zu erfrieren. Als sie in die Kronberger Straße einbog, sah sie, dass wieder einmal ein unbeschrifteter Kastenwagen mitten auf dem Gehweg stand. Diese Wagen waren eine echte Plage, seit die wohlhabenden Bewohner des Westends die teuren Sanierungsarbeiten von Billigfirmen aus Polen ausführen ließen. Voller Frust gab sie einer dicken Eisscholle einen Fußtritt, die krachend in die Seitentür des Fahrzeugs flog. Bevor sie sich über ihre Treffsicherheit freuen konnte, bemerkte sie eine Bewegung in der Fahrerkabine. Sie erschrak. Schnell vergrub sie ihr Gesicht im Jackenkragen und wechselte die Straßenseite.
Schon am Ende der Kronberger angelangt, erkannte sie unter einer Schneeschicht ihren Fiat 500. Erleichtert stieg sie ein. Auf dem Beifahrersitz lag ihr Lieblingsschal mit dem Leopardenfellmuster, den sie überall in der Wohnung gesucht hatte. Sie griff danach und schlang ihn sich wie einen Turban um den kalten Kopf. Karl-Friedrich hatte ihren Wagen am Dienstag benutzt, wie jedes Mal, wenn er Material ins Museum bringen wollte. Seit er aber einmal im schlecht ausgeleuchteten Innenhof den Nissan der Burkhardts gestreift und sich lange mit deren Anwalt hatte herumschlagen müssen, parkte er ihn lieber auf der Straße. Sie ließ den Motor an und stellte die Heizung auf die höchste Stufe. Hoffentlich waren ihre Finger noch zu retten.
Mit der Wärme schmolz auch ihre innere Erstarrung und ein ungutes Gefühl breitete sich aus. Das, was Frau Henkel sonst noch über den Eröffnungsabend erzählt hatte, war wirklich merkwürdig. Außer vielleicht der Streit zwischen den ewigen Konkurrenten, über den sich niemand im Museum gewundert hatte. Nach diesem Vorfall war der Professor aufgebracht, ja hysterisch, in die Ausstellungsräume gestürmt und hatte die Haustechniker regelrecht angetrieben, ihm beim Abheben der Schutzvitrine zu helfen. Danach war er mit dem Kultwagen in die Katakomben verschwunden, wo der Tresorraum für besonders wertvolle Objekte stand. Was war nur passiert, dass er so heftig, ja regelrecht unprofessionell, reagiert hatte?
Wieder klingelte das Handy und unterbrach ihre Gedanken. Diesmal war es Joschka.
»Hör zu«, sagte ihr Freund. »Dein zukünftiger Chef bei Durond hat mir unter der Hand gesagt, dass die Dauner-Geschichte keine Chance mehr hat. Das zieht nicht ohne den Professor, verstehst du?«
Nein.
»Du hast doch auch andere Ideen, nicht wahr?«
Nein!
»Gut, denn er will dich am Montag sehen.«
So ein Mist.
Was sie schon seit Mittwochnacht geahnt hatte, war jetzt Gewissheit. Mit dem unerwarteten Tod des Professors fiel auch ihr erstes Buchprojekt für das deutsch-italienische Programm in sich zusammen. Sie hatte keine andere Idee, sie hatte gar nicht daran gedacht. Zu erfolgversprechend war ihr das gemeinsame Konzept erschienen, das im selben Moment geboren worden war, in dem der Professor auf den Bildern des Bronzewagens diese eine verdächtige Delle entdeckt hatte.
Wäre seine Vermutung richtig gewesen, hätte ihre erste gemeinsame Publikation ein wissenschaftliches Erdbeben ausgelöst und wäre gleichzeitig ein Verkaufsschlager geworden. Damit hätte sie ihre neue Stelle bei Durond mit Zement gefestigt, von Schacht seinen berechtigten Platz zwischen Heinrich Schliemann und Howard Carter eingenommen und der Museumsdirektor seine Rückreise angetreten. Nach London, das er nie hätte verlassen dürfen.
Aber jetzt? Ohne Konzept keine Präsentation, ohne Präsentation keine Stelle, ohne Stelle …
So ein Mist!
Auf der Windschutzscheibe hatte sich endlich ein Halbkreis gebildet, durch den sie nach draußen sehen konnte. Es schneite wieder. Der Wind wirbelte Flocken durch die Luft, die aufplatzten, sobald sie die Fensterscheibe berührten. Giovanna betätigte den Scheibenwischer, aber er klebte fest, gehalten von den Resten eines Strafzettels. Sie suchte nach dem Eiskratzer und stieg aus.
Der dritte Anruf war von ihrem Mann. Er hatte ihr auf die Mailbox gesprochen, während sie draußen das krümelige Papier abkratzte. Diesmal hörte sie keine Hintergrundgeräusche, in Hongkong war es mitten in der Nacht. Julius lispelte leicht, wie immer, wenn er sehr müde war. Aber in der Sache war er bestimmt, fast monolithisch. Dass er am Freitag nicht zurückkäme und sie, als seine Ehefrau, die Rede bei der traditionellen Benefizveranstaltung der Wirtschaftskanzlei Greifenstein halten müsse. So wie in den letzten Jahren auch schon. Zum Wohle der Firma.
Diesmal würde sie es nicht schaffen. Nicht nach dem, was passiert war. Giovanna wollte ihn zurückrufen, dann dachte sie, dass er vielleicht schon schlief. Sie warf das Handy auf den Beifahrersitz, gurtete sich an und fuhr vorsichtig aus der Parklücke.
So viele Anrufe. Doch derjenige, nach dem sie sich am meisten