»Ach herrje, wie siehst du denn aus?«, begrüßte ihre Mutter sie eine halbe Stunde später in der Küche, wo sie gerade die Brote für Katrins kleinen Bruder schmierte. »Hast du nicht gut geschlafen? Du siehst aus, als hättest du die halbe Nacht geweint!«
Katrin verdrehte die Augen und winkte ab. »Alles in Ordnung. Bin nur noch etwas müde.«
Sie schmierte sich zwei Brötchen – eins für die Schule, eins aß sie direkt im Stehen. Sie hatte Angst, dass sie wieder einschlafen würde, würde sie sich an den Tisch setzen.
Katrins Mutter musterte sie noch einmal misstrauisch, ging jedoch nicht weiter auf das Thema ein. Stattdessen fragte sie: »Willst du lieber Hühnchen oder Fisch zum Mittagessen?«
»Mir egal«, gähnte Katrin und warf einen flüchtigen Blick auf die Uhr am Küchenradio, das leise einen Hit aus den 90ern vor sich hin dudelte.
»Mist, ich muss los!« Plötzlich war sie hellwach. Schnell verstaute sie ihre Brotbox mit einer Flasche Wasser im Rucksack, klemmte sich das andere Brötchen zwischen die Zähne, schlüpfte in Mantel und Stiefel und rannte zur Tür hinaus. Die Bushaltestelle war nur wenige Meter entfernt und sie erwischte den Bus gerade noch so.
Katrins erste Stunde war Sozialkunde und fürchterlich langweilig. Die meisten Schüler hingen schlaff in ihren Stühlen und nur wenige machten sich lustlos ein paar Notizen. Katrin schielte zu Anita hinüber, die mit der Wange auf ihrem Arm auf dem Tisch lag und die Augen fest geschlossen hatte. Timo, der schräg vor Katrin saß, hatte das Kinn auf seine Faust gestützt, kritzelte unmotiviert auf seinem Block herum und gähnte immer wieder herzhaft. Plötzlich, als hätte er Katrins Blick auf seinem Rücken gespürt, drehte er sich um und grinste sie müde an. Katrin erwiderte das Grinsen und sah schnell wieder weg.
»Okay, ich hab’ nicht viel Zeit, muss noch die Erdkundehausaufgaben abschreiben«, erklärte Freddy hektisch, als sie sich in der ersten großen Pause im Pavillon hinter den brachliegenden Schulgärten trafen. Katrin rutschte um den runden Tisch ein wenig näher an Timo heran, um für Freddy auf der Bank Platz zu machen. Freddy verkündete den aktuellen Punktestand und lobte Jochen und Katrin für ihre tolle Zusammenarbeit.
»Wo ist Tina?«, unterbrach er sich plötzlich selbst.
»Weiß nicht, sie war die ersten zwei Stunden schon nicht da und antwortet nicht auf meine Textnachricht«, sagte Anita und warf Katrin einen ängstlichen Blick zu. »Ich hab’ sie gestern Nacht noch bis zur Brücke begleitet, danach mussten wir in verschiedene Richtungen.« Kurz schwiegen sie alle, und Katrin wusste, dass durch die Köpfe der anderen vier die gleichen Gedanken rasten wie durch ihren: Hoffentlich war Tina nichts passiert! Und hoffentlich hatte sie sie nicht verraten …
»Ich werde nach der Schule mal bei ihr vorbeischauen«, sagte Jochen schließlich und Katrin verkniff sich nur mit aller Mühe ein Schmunzeln. Dass Jochen Hals über Kopf in Tina verschossen war, wusste zwar nur sie, weil er es ihr letzte Nacht verraten hatte, doch da Katrin es bereits zuvor vermutet hatte, war sie sich sicher, dass die anderen – zumindest Anita und Freddy – ebenfalls nicht ahnungslos waren. Was Timo betraf, so hatte Katrin allerdings nicht den Hauch von einem Plan, was in dessen Kopf so alles vorging.
»Alles klar. Ich würde sagen, wir verteilen trotzdem jetzt die Rollen. Du kannst ihr ja dann den Umschlag vorbeibringen, Jochen«, sagte Freddy und angelte einen kleinen, abgegriffenen Holzwürfel aus der Jackentasche. Katrins Herz begann sofort aufgeregt schneller zu schlagen.
Anita durfte als Erste würfeln. Eine Drei. Jochen hatte eine Zwei und Timo ebenfalls. Katrin nahm den Würfel in die linke Hand, um mit der rechten unter dem Tisch kräftig den heilen Daumen zu drücken.
Gerade, gerade, gerade!
Eine Vier! Mit einem coolen Grinsen schlug sie mit Jochen und Timo ein, während sie in ihrem Kopf Party feierte. Endlich war sie wieder einmal mit Timo in einem Team!
»Gut, dann also ihr drei gegen Anita, Tina und mich.« Freddy nickte Anita in seiner gewohnt geschäftsmäßigen Art zu und holte dann sechs weiße Umschläge aus seinem Rucksack. Anita bekam einen mit einem O darauf, Katrin, Timo und Jochen die Umschläge mit einem X. Jochen steckte außerdem noch einen O-Umschlag für Tina ein. Dass er den Umschlag nicht öffnen und heimlich lesen würde, verstand sich von selbst, und Katrin wusste, dass Jochen der Letzte war, der in irgendeiner Form betrügen würde. Er benutzte ja nicht einmal Spicker oder schrieb beim Nachbarn ab!
»Ja! Und dann kam die Polizei mit ganz viel Blaulicht und Tatütata«, erzählte ein kleiner Junge aufgeregt seinem Freund im Sitz vor Katrin auf der Heimfahrt im Bus. »Das war bestimmt wieder die Puzzlebande, sagt mein Papa! Nachher heißt es wieder in den Nachrichten, dass nichts gestohlen, dafür aber ein mysteriöses Puzzleteil gefunden wurde, wirst sehen!«
»Die sind doch total dumm«, murmelte der andere Junge gelangweilt. »Wieso klauen die nichts, wenn sie schon wo einbrechen? Ich würd’ da längst irgendwo im Ausland sitzen und fröhlich meinen riesigen Haufen Geldscheine zählen.«
»Du bist so ein dummer Affe«, entgegnete sein Freund genervt. »Ein gewöhnlicher Einbrecher sein, das kann jeder. Die Puzzlebande« – der andere Junge lachte verächtlich – »ist viel cooler.«
Den Rest des Streits der beiden Kinder bekam Katrin nicht mehr mit, da sie aussteigen musste.
Erst nach dem Mittagessen, als sie alleine in ihrem Zimmer war, um Hausaufgaben zu machen, hatte Katrin Gelegenheit, den Umschlag zu öffnen. Wie jedes Mal befanden sich darin eine Rollenbeschreibung mit Anweisungen, ein Lage- und Gebäudeplan und ein kurzer Einkaufszettel. Das nächste Spiel sollte in zehn Tagen in der Nacht von Freitag auf Samstag stattfinden und Katrin war erleichtert darüber, diesmal am nächsten Tag ausschlafen zu können. Sie sah sich ganz genau den Plan des Gebäudes an, in das sie einsteigen sollten (dieses Mal war es das alte Rathaus), verglich ihn mit den Anweisungen und den Dingen, die sie besorgen sollte, und sofort begann sich in ihrem Kopf eine Strategie zu formen. Doch ihre Augen wurden immer schwerer und sie beschloss, ein Nachmittagsnickerchen zu machen, sonst würde das mit den Hausaufgaben auch nichts mehr werden. Also faltete sie die Blätter wieder zusammen und schob sie zurück in den Umschlag. Erst dabei bemerkte sie, dass sich noch etwas darin befand. Sie zog die Papiere wieder heraus und drehte den Umschlag um. Ein kleines schwarzweißes Puzzlestück fiel heraus und kullerte über den Boden. Katrins Herz machte einen Sprung. Sie war nicht nur mit Timo in einem Team, sondern auch noch – zum ersten Mal! – die Person, die das eigene Puzzleteil gegen das des O-Teams, das irgendwo im alten Rathaus versteckt war, austauschen musste.
Insgesamt gab es zweimal neun Puzzleteile – neun für Team X, neun für Team O. Gespielt wurde immer in tagsüber frei zugänglichen Gebäuden wie Schulen, Bibliotheken, Ämtern oder Kirchen. Bis zu dem Datum, für das das Spiel angesetzt war, durften beide Teams den Ort des Geschehens nach Lust und Laune auskundschaften. Am Tag selbst durfte dann nur noch Team O hinein, um sein Puzzleteil zu verstecken. Da so ein kleines Puzzleteil, etwa münzgroß, natürlich sehr einfach zu verstecken war – man musste es schließlich nur hinter einen Schrank rutschen lassen – gab es dafür gewisse Bedingungen. Eine war, dass es gut sichtbar sein musste und das Versteck zusätzlich bestimmte Vorgaben erfüllen musste, die jede Runde neu definiert wurden, wie etwa die Vorgabe, dass man es nur im Erdgeschoss oder in der Nähe eines Wasserhahns verstecken durfte. Team X, das ebenfalls über die Eigenschaften des Verstecks Bescheid wusste, wurde um Mitternacht aktiv. Es musste unbemerkt in das Gebäude gelangen, das Puzzleteil des anderen Teams finden und durch das eigene ersetzen. Dafür hatten sie, je nach Schwierigkeit des Austragungsorts, zwischen fünfzehn Minuten und einer Stunde Zeit, bis das andere Team die Polizei verständigte und einen Einbruch meldete. Konnte Team X bis dahin nicht die Puzzleteile austauschen, tat es gut daran, aufzugeben und sich aus dem Staub zu machen, schließlich sollte niemand von ihnen geschnappt werden. Das Puzzleteil