»Und jetzt, Püppchen, sag bye, bye.«
Der Lockige entsicherte seine Pistole und noch ehe Margret einen klaren Gedanken fassen konnte, ertönte ein ohrenbetäubender Knall.
Erschrocken fuhr Margret hoch und blickte sich in der Suite um. Alles war ordentlich und hinter dem dicken Vorhang blitzten die ersten milchigen Sonnenstrahlen durch dick fallende Schneeflocken hindurch. Im Fernsehen lief die Wiederholung eines Krimis, in dem gerade wild herumgeballert wurde. Ein Blick auf die Uhr verriet ihr, dass es bereits halb neun war. Margret merkte, dass sie nur geträumt haben musste, und lachte erleichtert auf.
Ein Traum. Alles bloß ein Traum! Gott sei Dank.
Seufzend schaltete sie den Fernseher aus und stand auf, um sich schnell für das Frühstück und den anschließenden Termin fertig zu machen.
Verrückt. Sicher hatte ihr Unterbewusstsein irgendwie den Krimi mitverarbeitet.
Zufrieden und erleichtert, dass sie lebendig und alles wie immer war, fuhr sie mit dem Fahrstuhl ins Erdgeschoss. Lächelnd betrat sie den Frühstücksraum und stutzte, als ihr zwei Männer in dunklen Anzügen entgegenkamen. Einer hatte eine Glatze, einer dunkles, lockiges Haar.
»Morgen, Püppchen«, grinste der Lockenkopf und beide zogen dunkle Sonnenbrillen auf, als sie den Raum verließen.
Sandra Bollenbacher
MARiNA
Heute sagte mir Isabelle, dass sie die kleinen Orangen mit den Kernen eigentlich lieber mag als die, die ich gekauft habe. Ich hätte fast losgeheult. Nicht wegen der Orangen, sondern wegen der Erinnerungen, die mit Isabelles Gemecker aufkamen. Ich habe es ihr nie gesagt, aber ich war vor ihr schon einmal verheiratet.
Meine erste Frau, Marina, verschwand fünf Jahre nach unserer Hochzeit. Sie hat auch immer über die Orangen gemeckert. Bei ihr waren es jedoch nicht nur die Orangen: Es begann mit den Bananen (sie waren zu lang) und den Kartoffeln (konnte ich keine dickeren finden?) und selbst die Äpfel entsprachen nicht ihren Erwartungen, obwohl ich besonders darauf geachtet hatte, genau die zu kaufen, die sie immer gekauft hatte. Normalerweise war sie es gewesen, die die Einkäufe erledigt hatte, doch zu jener Zeit war nichts mehr so, wie es einmal gewesen war. Alles hatte sich geändert.
Begonnen hatte es Weihnachten 2006.
Heilig Abend war an einem Samstag gewesen und am Dienstag darauf stellte sie mir die sonderbarste Frage: »Kannst du meinen kleinen Finger sehen?«
Natürlich habe ich erst einmal gelacht, aber die Verzweiflung in ihrer Stimme ließ mich verstummen.
»Geht es dir gut, Liebling?«
»Nein, ich glaube, mir geht es überhaupt nicht gut«, war ihre ruhige, doch bestimmte Antwort. »Schau dir den kleinen Finger meiner linken Hand an, ja? Kannst du ihn sehen?«
Ich war versucht, den Raum zu verlassen, um nicht einer ihrer Spinnereien nachzugeben, denn diese hatte meine Frau zu dieser Zeit öfter, nachdem sie das Baby verloren hatte.
»Eddie, bitte, kannst du meinen Finger sehen?«
Ich sah kurz auf ihre Hand. »Ja, Liebling, ich kann deinen Finger sehen«, sagte ich mit ruhiger Stimme, während ich in ihre besorgten Augen blickte.
Sie biss sich auf die Unterlippe und starrte auf ihre Hand.
»Liebes, ich denke auch, dass es dir nicht gut geht. Willst du dich nicht für den Rest des Tages hinlegen?« Ich fühlte ihre Stirn und dachte, dass sie erhöhte Temperatur haben könnte.
»Ja. Ja, ich lege mich etwas hin«, murmelte sie und verließ, sich geräuschlos wie ein Geist bewegend, den Raum.
Ich kann nicht sagen, dass ich mir damals große Sorgen gemacht hatte. Ich nahm an, dass der Stress der Feiertage schuld war. Wir hatten unsere beider Familien zum Weihnachtsessen eingeladen und Marina hatte viel Arbeit gehabt. Wir freuten uns immer, unsere Familien zu sehen, doch noch mehr hatten wir uns gefreut, als sie wieder abgereist waren.
Da ich noch zwei Wochen Urlaub hatte, dachte ich, dass ein Kurztrip über Silvester ihr gut tun würde; sie könnte alles hinter sich lassen, das sie belastete. Am folgenden Freitag packten wir unsere Koffer. Ich fuhr mit ihr zur Küste: Sie hatte immer das Meer geliebt, besonders im Winter, wenn die Wellen wütend gegen die Felsen krachten. Drei Jahre zuvor hatten wir hier ein kleines Haus gekauft, nur für uns beide. Es war entzückend. Es bestand aus einem Wohnzimmer mit Kochecke, zwei Schlafzimmern im Obergeschoss und einem Bad. Die kühle, frische Luft, die Ruhe, die wilde Natur – ich dachte, Marina würde es hier bald besser gehen.
Ich lag falsch. Ihr ging es immer schlechter. Es war nicht so, als hätte ich ihre Veränderung nicht bemerkt, ich nahm sie nur anders wahr. Während sie immer von ihrem Finger sprach – bald war es die ganze Hand –, achtete ich nur auf ihre psychische Gesundheit. Ich wusste ja, dass sie monatelang instabil sein würde, das hatte der Arzt mir gesagt. Dennoch lag ihre Fehlgeburt nun schon ein Jahr zurück und es ging ihr nicht besser, sondern schlechter. Ich fing an, daran zu zweifeln, ob der Ausflug eine gute Idee gewesen war. Vielleicht war es ihre gewohnte Umgebung, das Alltagsleben, das sie brauchte?
»Möchtest du wieder arbeiten gehen, wenn wir zurück sind?«, fragte ich sie am Neujahrsmorgen, während wir im Bett lagen und sie ihre Hand anstarrte.
»Wie denn, bitte?«, war ihre ungehaltene Antwort. »Wie kann ich denn bitte mit so einer Hand arbeiten?«
Ich seufzte und verließ das Bett, um Frühstück zu machen.
Wollte sie einen Spaziergang machen? Nein.
Wollte sie Scrabble spielen? Nein.
Wollte sie mir beim Kochen des Abendessens helfen? Ganz sicher nicht. Nicht mit dieser Hand!
Der nächste Tag war nicht wirklich besser. Als ich sie jedoch bat, sich für die Heimfahrt fertig zu machen, tat sie es nicht. Sie sagte, ihr ginge es nicht gut, und ich rief einen Arzt an, der kam, um sie zu untersuchen. Da er nur der Arzt des nächstgelegenen Dorfs war, wusste er nicht so recht, wie er mit ihrem Fall umgehen sollte, und verordnete ihr Bettruhe. Also blieben wir. Ich konnte ohne Probleme von hier aus arbeiten, da ich meinen Laptop mitgebracht hatte.
»Erinnerst du dich an jenen Abend, als Fritz zur Autowaschanlage fuhr und nicht wieder zurückkam?«, fragte Marina plötzlich an einem verschneiten Nachmittag. Ich ließ beinahe die Pfanne mit den Würstchen fallen, was meine Frau genervt aufstöhnen ließ: Das war etwas, das sie während der letzten Tage viel öfter tat als zuvor.
»Natürlich erinnere ich mich«, sagte ich leise. Ich hatte ihren Bruder sehr gerne gemocht, auch wenn er etwas merkwürdig gewesen war. »Wie kommst du jetzt darauf?«
»Er meinte damals, nur eine Woche vor seinem Verschwinden, dass etwas mit seinem rechten Fuß nicht stimmen wü–«
»Kannst du bitte damit aufhören? Mit deiner Hand ist alles in Ordnung!«, platzte ich wütend heraus.
»Du schaust sie dir ja nicht einmal richtig an!«, erwiderte sie genauso laut.
»Ich muss sie nicht richtig anschauen, um zu sehen, dass alles in Ordnung ist.«
Ich versuchte mich zu beruhigen. Ich wusste, dass ich ungerecht war und dass es nicht ihre Schuld war, doch sie machte mich verrückt damit.
»Liebling, bitte.« Die Ruhe meiner Stimme überzeugte nicht einmal mich selbst. »Ich würde gerne Dr. Resch kommen lassen. Ich habe schon gestern mit ihm telefoniert und er würde herkommen … Okay?«
Sie antwortete mit einem Schnauben und ich interpretierte es als ein Ja.
Dr. Resch kam und gab ihr Tabletten. Trotzdem wollte Marina nicht wieder nach Hause fahren. Da ich die Ruhe und Nähe zur Natur genoss und dachte, dass ich hier sogar besser arbeiten konnte