Der etwas andere Kurzgeschichten-Adventskalender. Sandra Bollenbacher. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Sandra Bollenbacher
Издательство: Readbox publishing GmbH
Серия:
Жанр произведения: Контркультура
Год издания: 0
isbn: 9783347143609
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oder Richter war! Niemand von ihnen trug eine weiße Ringellöckchenperücke!

      »Psst«, machte Mama und schob Emilia vor sich her ans andere Ende des Raums, wo ein paar Stühle in zwei Reihen standen.

      Emilia ließ sich auf den ersten fallen und stützte das Kinn in die Hände. Vielleicht waren das ja alles Anwälte und die restlichen Personen würde gleich nachkommen. Diese Hoffnung zerplatzte allerdings in der nächsten Sekunde, denn eine der Frauen ergriff das Wort und die Verhandlung begann.

      Emilia hatte zwar all die Menschen optisch nicht einordnen können, doch sie konnte ihnen schnell ihre Rollen zuteilen, sobald sie sprachen. Die Frau mit den kurzen braunen Haaren, älter als Mama, aber nicht so alt wie Oma, war die Richterin! Und der Mann da links, der ganz rote Ohren hatte, das war der Angeklagte. Der Mann daneben sein Anwalt. Gegenüber saßen zwei Frauen von der Staatsanwaltschaft und ein junger Mann, der während der gesamten Verhandlung kein Wort sprach, sich jedoch unentwegt Notizen machte. Einmal drückte er zu feste auf und Emilia konnte sehen, wie sich ein dunkelblau schimmernder Tintenfleck über dem Text ausbreitete. Eilig tupfte er mit einem Taschentuch über das Blatt. Auch Emilia wünschte sich, ihr Notizbuch und einen Stift dabei zu haben. Wieso hatte sie nicht daran gedacht? Doch sie traute sich nicht, Mama oder Papa nach etwas zu Schreiben zu fragen. Sie traute sich kaum zu atmen! Es war so spannend!

      Der Angeklagte, Herr Günther – Emilia war sich nicht sicher, ob das sein Vor- oder Nachname war –, hatte sein Auto im absoluten Halteverbot geparkt. Die Sache war klar: Man durfte nicht im absoluten Halteverbot parken, nicht eine Minute und schon gar keine 37 Minuten! Schuldig!

      Aber Herr Günther hatte doch nur dort gehalten, weil es sich um einen Notfall gehandelt hatte! Seine Mutter hatte versucht, an die alte Chinavase zu kommen, die hoch oben auf dem Küchenschrank stand. Der Stuhl war ins Wackeln geraten, sie hatte die Vase heruntergeschlagen, war vom Stuhl gefallen und konnte nicht mehr aufstehen. Zum Glück hatte sie ihr Handy in der Tasche und konnte ihren Sohn anrufen, der sofort zu ihr fuhr, nur leider keinen Parkplatz fand. Das absolute Halteverbot war ihm in diesem Moment egal gewesen, er wollte nur so schnell es ging zu seiner Mutter, um sie ins Krankenhaus zu fahren. Emilia stieß einen leisen Seufzer aus. Sie stellte sich vor, wie sie handeln würde, wenn ihre Mama sich wehgetan hätte. Sie konnte Herrn Günther voll und ganz verstehen. Freispruch!

      Das wäre ja alles verständlich, entgegnete eine der Staatsanwältinnen ruhig, doch dadurch, dass Herr Günther im absoluten Halteverbot geparkt hatte, hatte er nicht nur andere Menschen behindert, er hatte sie sogar in Gefahr gebracht! Das absolute Halteverbot befand sich nämlich vor der Einfahrt einer Arztpraxis. (Emilia fragte sich, weshalb die Mama von Herrn Günther statt ihres Sohns nicht den Arzt vom Haus nebenan um Hilfe gebeten hatte, doch umgekehrt würde sie ja auch zuerst nach ihrer Mama rufen, nicht nach Doktor Becker, der in der Etage unter ihnen wohnte.) Was wäre denn zum Beispiel, fuhr die andere Staatsanwältin fort – sie spuckte immer ein wenig beim Reden, das fand Emilia etwas eklig –, wenn jemand, der aus welchem Grund auch immer eine Überdosis an Tabletten genommen hatte und jetzt im Sterben lag, von seinem Freund zum Arzt gefahren würde, dieser jedoch durch die blockierte Einfahrt nicht rechtzeitig zur Praxis käme und der Patient sterben würde? Dann hätte Herr Günther das Leben dieses Mannes auf dem Gewissen! Emilia sah mit großen Augen zwischen der Staatsanwältin, dem Angeklagten und der Richterin hin und her. Das wäre natürlich schrecklich! Die Mama von Herrn Günther hatte zwar sicher große Schmerzen, doch ihr Leben war nicht in Gefahr. Herr Günther hätte die Einfahrt zur Arztpraxis auf jeden Fall freilassen müssen. Emilia nickte mit zusammengepressten Lippen. Ihre Hände kneteten Hugo, den kleinen grünen Plüschkraken, den sie immer bei sich trug. Hugo war ihr ganz persönlicher Gerichtsprotokollschreiber. Mit seinen acht Armen konnte er auch viel schneller schreiben als der junge Mann der Staatsanwaltschaft. Direkt acht Zeilen auf einmal!

      »Auch wenn Sie natürlich rein theoretisch Recht haben, Frau Kollegin«, warf der Verteidiger nun ein, »so ist in dieser knappen halben Stunde, in der mein Mandant mit seinem Fahrzeug die Einfahrt zur Arztpraxis blockierte, kein solcher Notfall eingetreten. Selbstverständlich hat er nicht wissentlich das Leben anderer Menschen gefährdet.« Der Angeklagte nickte heftig. »Wobei ich auch sagen muss, dass es doch sehr unwahrscheinlich ist, dass jemand zu einem Hals-Nasen-Ohren-Arzt gefahren wird, wenn er sich mit Tabletten vergiftet hat, statt direkt ins Krankenhaus … Außerdem ist es doch normal, dass man zuerst an das Wohlergehen der eigenen Familie denkt. Herr Günther hat sich schreckliche Sorgen um seine alte Mutter gemacht!«

      Und so ging es eine Weile hin und her. Emilias Kopf brummte.

      Zu Hause beim Richterin-Spielen war alles viel einfacher. Der böse Mister Känterbörri hatte einen Tunnel gegraben und die Kronjuwelen der Prinzessin gestohlen: schuldig. Die dicke Frau Elsa wurde beschuldigt, den Kuchen der fiesen Nachbarin gegessen zu haben, nur weil sie dick war, dabei waren überall am Tatort Hundespuren mit Kuchenresten gefunden worden: nicht schuldig. Papa hatte am Abend den Teller nicht aufgegessen und am nächsten Tag regnete es: schuldig.

      Und plötzlich war die Verhandlung vorbei. Emilia sah verwirrt den Anzugmenschen hinterher, als diese nacheinander den Raum verließen. Die Richterin hatte nicht einmal mit einem Hammer auf den Tisch geklopft! Nicht ein einziges Mal waren die Wörter »schuldig« oder »nicht schuldig« gefallen. Herr Günther musste Geld bezahlen, doch mit der Höhe der Summe konnte Emilia auch nichts anfangen. Es waren keine Millionen, daher war die Strafe wohl nicht so schlimm, aber war es überhaupt eine? Den Kopf voller wirrer Gedanken ließ sich Emilia von Papa aus dem Gebäude führen und ins Auto setzen.

      Auf der Rückfahrt drehte sich Mama zu ihr um und fragte lächelnd: »Und, mein Schatz, wie hat es dir gefallen? Fandest du das Urteil gerecht?«

      »Puuuuuh, ich weiß nicht«, seufzte Emilia. »Ich glaube, ich muss noch viel mehr üben.«

      Lisa Darling

      I’M DREAMiNG oF …

      Margret Adelaide van Huston verließ tropfend die Badewanne. Das frisch gewaschene Handtuch um ihren Körper schlingend betrachtete sie sich im letzten Fleck Spiegel, der es geschafft hatte, nicht zu beschlagen.

      »I’m dreaming of a white Christmas …«

      Leise sang sie »White Christmas« vor sich hin. Schon als Kind war »Weiße Weihnachten« stets der Film gewesen, den sie traditionsgemäß geschaut hatten, wenn sie an Weihnachten zu ihrem Vater ins Hotel kamen. In diesem Film wurde das Lied gesungen und auch heute noch verband sie es darum mit Weihnachten im Hotel.

      Früher, als ihr Vater gerade sein Hotel-Imperium aufgebaut hatte, arbeitete er so viel, dass sie und ihre Mutter regelmäßig in einem der Zimmer gewohnt hatten, um öfter bei ihm sein zu können. Und immer wieder hatten sie dort diesen Film angeschaut.

      Margret hatte es im Hotel stets gefallen und ganz oft gespielt, sie würde dort arbeiten. Und als sie erwachsen wurde, hatte sie tatsächlich Hotelfachfrau gelernt und ein Studium drangehängt, um später das Imperium ihres Vaters zu übernehmen.

      Nachdem sie sich abgetrocknet hatte, schlüpfte sie in ihren Morgenmantel und band ihr noch feuchtes Haar zu einem Dutt zusammen. Sie hatte nicht vor, das Hotelzimmer heute Abend noch einmal zu verlassen. Es war schon spät und sie musste am nächsten Tag früh raus, denn ein wichtiger Termin mit dem aktuellen Leiter dieses Hotels erwartete sie. Dafür wollte sie selbstverständlich fit sein, denn dies würde ein wichtiger Deal für die Van-Huston-Hotelkette werden.

      Noch immer leise summend ließ sie sich auf dem Bett nieder und schaltete den Fernseher ein. Das Zimmer war viel zu groß für sie, doch ihr Vater war stets großzügig und spendierte ihr jedes Mal eine Suite, wenn sie im Außendienst unterwegs war.

      Während sie durch das Fernsehprogramm zappte, klopfte es zwei Mal an der Tür.

      »Zimmerservice«, drang eine dumpfe Stimme zu ihr hinein.

      Nanu? Jetzt wollte jemand putzen? Das war aber ungewöhnlich. Möglicherweise stand jedoch auch nur ein Azubi vor der Tür, der noch mit den richtigen Begriffen haderte. Sie sollte einfach mal nachschauen,