»Das nächste Mal kannst du uns auch gerne in der Werkstatt besuchen kommen«, schlug Amaliel vor.
»Aber nicht zu viel schnüffeln, sonst bekommst du noch mit, was alle anderen Kinder zu Weihnachten kriegen oder sogar was du bekommst!«, fuhr Mattis, der eine grüne Mütze trug und große Zähne hatte, dazwischen. Ich grinste und stellte einmal mehr fest, wie wohl ich mich hier fühlte.
»Wir zeigen dir auch noch alles andere hier, du wirst begeistert sein. Das kannst du uns glauben!«, sagte ein Kobold mit einer blauen Mütze und riesigen Ohren stolz, doch ich kam nicht dazu, etwas darauf zu erwidern, denn ein anderer Kobold sprach schon wieder weiter:
»Was hast denn du neugieriges Mädchen eigentlich auf unserem Dachboden gemacht? Hast du etwas Schönes gefunden?«
»Oh«, machte ich etwas überrascht und fühlte mich sofort ertappt. Alle sahen mich plötzlich erwartungsvoll an und ich war mir nicht ganz sicher, ob das, was ich getan hatte, vielleicht doch schlimm gewesen ist. »Ich finde es total schön da oben. Man kann aus dem Giebelfenster so weit schauen und der Sternenhimmel war einfach unglaublich. Und der große Weihnachtsschlitten erst, das der überhaupt fliegt...« Den letzten Satz fügte ich nur leise an, in der naiven Hoffnung, dass die anderen ihn nicht bemerkten oder ihn ignorierten. Doch sie ignorierten ihn nicht. Die Gesichter aller wurden plötzlich so traurig wie ich es mir bei keinem von ihnen hätte vorstellen können. Der Weihnachtsmann sah mich mit merkwürdig funkelnden Augen an und das adventliche Licht wirkte auf einmal bedrohlich und düster.
In diesem Moment wusste ich, dass ich etwas Falsches gesagt hatte.
Unsicher wich ich dem harten Blick des Weihnachtsmanns aus und fühlte mich so schlecht wie noch nie in meinem ganzen Leben. Die familiäre Selbstverständlichkeit war völlig verschwunden und stattdessen wurde mir plötzlich klar, dass ich hier fremd war, es immer sein würde und hier nicht hingehörte. Was hatte ich hier überhaupt verloren?
»Dieses Jahr ist alles anders«, sagte Amaliel schließlich nach einigen Sekunden stiller Anspannung. Ihr Gesicht sah müde und erschöpft aus, ganz anders als vor wenigen Sekunden noch. »Der Schlitten fliegt nicht.«
»Wir benötigen zum Fliegen einen bestimmten Staub. Es ist der Staub der Polarfelder. Er bringt uns an einem Abend um die ganze Erde. Du kannst dir ja wahrscheinlich vorstellen, was passiert, wenn wir diesen Polarstaub nicht haben, oder?«, sagte einer der Weihnachtskobolde und ihre fehlende gute Laune ließ sie mir völlig fremd erscheinen. Dennoch fiel ein wesentlicher Teil meiner Anspannung von mir ab. Sie waren nicht sauer auf mich, hier ist etwas völlig anderes schiefgegangen.
»Dann könnt ihr nicht an einem Abend einmal um die Welt, richtig?«
Ich sprach das mit höchster Vorsicht aus, denn der Blick des Weihnachtsmanns eben war wirklich schlimm gewesen.
»Wir bezweifeln sogar, dass wir überhaupt nur ein Stück weit kommen«, sagte Muffel, der ein wenig nuschelte und eine rote Mütze trug.
»Aber ihr seid doch schon so fleißig bei euren Vorbereitungen! Ihr könnt doch nicht so tun, als würde alles funktionieren und eurem Polarstaub einfach nur hinterher trauern! Wo bekommt ihr denn her?« Mir war klar, dass meine Worte sehr gewagt waren, aber die Fassungslosigkeit platzte einfach aus mir heraus.
»Du bist wahrscheinlich diejenige, die wissen könnte, wo sich der Polarstaub befindet«, meldete sich nun der Weihnachtsmann zu Wort. Seine eben noch warmen Gesichtszüge wirkten in dem flackernden Kerzenschein nun dunkel und zornig, doch vor allem blitzten seine Augen voller Angst.
»Ich? Aber das ist doch Quatsch. Woher soll ich denn wissen wo der Polarstaub ist?«
»Naja, vielleicht weißt du nicht direkt, wo sich der Polarstaub befindet. Aber möglicherweise findest du einen Hinweis auf das Versteck«, beschwichtigte mich Mups.
»Ja genau, du findest in deiner Welt einen Hinweis oder eine Art Codewort, das uns zu dem Polarstaub bringen könnte. Wahrscheinlich bist du hier, um uns zu dem Staub zu führen.« Amaliels Miene hellte sich wieder etwas auf.
»Ihr meint, ich könnte einen Hinweis für das Versteck finden? Seid ihr euch da wirklich so sicher?«, fragte ich immer noch etwas überfordert.
»Halt am besten einfach die Augen offen, ob du irgendetwas finden kannst. Kommt es dir nur in irgendeiner Weise merkwürdig oder verdächtig vor, sag uns Bescheid«, sagte der Weihnachtsmann und trank einen Schluck aus seiner Tasse. Die adventliche Stimmung kehrte langsam wieder zurück, doch in meinem Kopf schwirrten die Gedanken wild umher und konnten sich auf den Moment nicht mehr konzentrieren.
»Na gut«, sagte ich ein wenig widerwillig und aß mein letztes Stück Stollen auf. »Vielleicht finde ich ja tatsächlich etwas.« In mir wuchs das Bedürfnis, hier einfach nur noch zu verschwinden.
»Bei jeder Sache, die dir komisch vorkommt und etwas mit Joulumaa zu tun haben könnte, musst du uns sofort Bescheid geben. Es könnte ein Hinweis auf das Versteck des Polarstaubs sein«, erklärte Amaliel mir ein weiteres Mal.
»Amaliel, nun ist doch gut. Sie wird es schon verstanden haben«, sagte der Weihnachtsmann und lächelte mir zu, aber nach der plötzlichen Dunkelheit eben in seinem Gesicht konnte ich dieses Lächeln irgendwie nicht mehr ernst nehmen.
Sie alle begleiteten mich in stiller Übereinkunft noch nach draußen bis zur Markierung. Ich verabschiedete mich, bedankte mich für den Tag und das Essen und versprach nach einem Hinweis Ausschau zu halten, der uns zum Polarstaub führen könnte.
»Komm bald wie -«, hörte ich die Kobolde mir noch hinterherrufen. Dann verschwand ich in dem unsichtbaren Portal.
4.
Ich landete sicher zuhause auf dem Weihnachtsmarkt zwischen der bunt geschmückten Getränkebude und dem Schmuckstand.
»Wo kommst du denn her?«, fragte eine bekannte Stimme direkt hinter mir. Ich fuhr herum und erschrak.
Zwei Meter vor mir stand Liam.
Ausgerechnet Liam, der größte Angeber und Besserwisser der ganzen Schule. Ich würde sogar sagen aus der ganzen Stadt und ausgerechnet er ging auch noch in meine Klasse.
»Na..., also aus dem Stand hier«, stotterte ich und zeigte auf den Schmuckstand neben mir. Ich war gedanklich eigentlich noch gar nicht angekommen.
»Aha, ja bestimmt. Du bist doch wie aus dem nichts vor mir aufgetaucht.« Jetzt hätte ich Liam am liebsten den giftigsten Blick zugeworfen, den ich zustande bringen konnte.
»Denkst du etwa, dass ich mich hierher gebeamt habe, oder was?« Ich schaute ihn an, als hätte er nicht mehr alle Tassen im Schrank.
»Naja, das weiß ich doch nicht, was du so alles machst.«
»Jedenfalls nicht mich irgendwo hinzaubern.« Konnte er mich nicht einfach in Ruhe lassen? Wieso musste er denn auch genau zu diesem Zeitpunkt genau hier auftauchen?
»Was hast du denn in dem Schmuckstand gemacht?«, fragte Liam lauernd.
»Ich, ähm, also, ich habe nachgeschaut, ob noch alles an Ort und Stelle ist. Meiner Tante gehört der Stand, weißt du?« Diese rettende Antwort machte mich richtig stolz.
»Deiner Tante gehört der Laden?«, fragte Liam.
»Ja, habe ich doch gerade gesagt und jetzt muss ich echt mal los. Wir sehen uns ja bestimmt morgen in der Schule.« Ich wandte mich um und ging ohne ein Wort zu sagen oder mich noch einmal umzusehen, obwohl ich zu gerne sein Gesicht gesehen hätte.
»Und, hast du heute irgendetwas Spannendes erlebt?«, fragte mich mein Vater beim Abendessen.
»Äh, nö eigentlich nicht, und ihr?«, erwiderte ich, um von mir sofort abzulenken.
»Ach, nur ein ganz normaler Arbeitstag«, antwortete mein Vater und schnitt sich eine Scheibe Brot ab.
»Ja, ich auch«, fügte meine Mutter hinzu. »Hast du deine Hausaufgaben für morgen denn