Etwas steif rappelte ich mich auf. Vor mir erstreckte sich eine Art Einkaufsgasse, mit dem Unterschied, dass es keine Geschäfte waren, die sich nebeneinander reihten, sondern kleine Häuschen mit Werkstatt-Charakter. Unsicher näherte ich mich den Zimmerchen. Es schienen tatsächlich kleine Werkstätten zu sein, überall gab es Arbeitsbänke, Bohrmaschinen, Hämmer, Kisten und herumliegende Schrauben. Die Gasse war nicht sehr lang, was sie umso geheimnisvoller machte.
So unbemerkt wie möglich wanderte ich weiter und schaute dabei durch die Schaufenster in alle Räume hinein, die aber sehr dunkel waren und mehr als ein paar Werkzeug nicht zu erkennen waren An manchen Eingängen hingen Fackeln, die alles in ein gemütliches Licht tauchten. Meine Angst und Unsicherheit schwanden, als hätten dieses Licht und der Ort eine beruhigende Wirkung auf mich, auch wenn ich immer noch etwas ziellos war. Am Ende der Gasse blieb ich unschlüssig vor einer Holztür stehen. Ein rotes Schild mit goldenen, verschnörkelten Buchstaben markierte das Haupthaus.
Haupthaus? Wo zum Teufel war ich hier gelandet? Ich zögerte erst, doch dann klopfte ich an. Es regte sich nichts. Konnte es denn sein, dass der Ort hier trotz brennender Fackeln völlig verlassen war? Gerade als ich mich wieder umdrehen wollte, hörte ich ein Klappern hinter der Tür. Mit einem Ruck wurde sie geöffnet und ein kleiner Mann, der mir bestimmt nur bis zum Bauchnabel reichte, stand vor mir. Er blickte mich mit leuchtend grünen Augen an und ein Schmunzeln breitete sich auf seinem runden Gesicht aus.
»Was machst du denn hier?«, fragte er freundlich und so als könnte er es kaum glauben, dass ich vor ihm stand. Und vor allem, so als würde er mich kennen.
»Ich fürchte, das weiß ich genauso wenig wie Sie«, antwortete ich und wich verunsichert zurück.
»Ein Kind ist hier!«, rief der Mann offenbar zu den anderen Mitbewohner des Hauses. Aufgeregt sprang er zurück und schien sich nur schwer davon abhalten zu können, begeistert ein Rad zu schlagen. Aus einer Tür am Ende des Raumes kamen noch mehr solcher kleinen, aufgeregten Männchen gelaufen. Sie alle waren kein Bisschen größer als ihr Kumpel und wuselten mindestens genauso wild durch den Raum. Nach ein paar Sekunden im unübersichtlichen Chaos bauten sie sich vor mir in einer Reihe auf, setzten rote, grüne und blaue Mützen auf und fingen an zu singen. Ich hätte am liebsten eine Kamera herausgeholt und diese filmreife Szene aufgenommen, wobei mir der Gedanke kam, dass das hier nur ein Streich mit versteckter Kamera sein könnte. Irgendwie hoffte ich das sogar sehr.
»Kindelein, oh Kindelein, sei bei uns willkommen...«
Verlegen schaute ich von einem zum anderen sah ihnen dabei zu, wie sie voller Leidenschaft sangen.
Als sie fertig waren, verbeugten sie sich nacheinander. Mit einem breiten, stolzen Grinsen sahen sie zu mir auf und ich konnte nicht anders als zu applaudieren.
»Vielen Dank, das war wirklich schön«, gestand ich und musste etwas beschämt lachen. Ich wurde jedoch direkt vor der nächsten unangenehmen Stille durch ein Poltern von der Decke gerettet und ich schaute erschrocken nach oben.
»Keine Angst, das ist bloß Amaliel«, sagte der dickste der kleinen Männer.
»Amaliel?«, wiederholte ich verwundert und wurde von den kleinen Männern herein gewunken. Ich gehorchte und trat behutsam ein.
»Ja«, erwiderte einer mit einer besonders piepsigen Stimme, was zugegebener Maßen ziemlich süß klang. »Amaliel, unser Weihnachtsengel.«
Ein Weihnachtsengel? Wollten die mich etwa auf den Arm nehmen? »Ja genau und ich bin der Weihnachtsmann«, sagte ich ironisch. Die Männer blickten mich jedoch vollkommen verwirrt an. Offensichtlich verstanden die keinen Spaß. Zumindest nicht solchen, wo sie doch vorher ganz lustig gewesen sind. »Das war doch bloß ein Witz«, versuchte ich die Situation zu retten.
»Das hätten wir dir auch nicht geglaubt, denn der Weihnachtsmann liegt hinter der Tür dort und schläft«, sagte einer und wies auf die eine Tür am Ende des Raumes.
Jetzt war ich es, die total verwirrt aussah. Ich lachte vorsichtig und mir war längst klar, dass das hier kein Witz war. »Der Weihnachtsmann?«
»Ja, und wir sind seine Weihnachtskobolde: Michi, Mick, Muffel, Mattis, Maxi und Mups. Amaliel ist unser Weihnachtsengel. Sie hat nur leider momentan viel zu tun. Und wie schon gesagt, der Weihnachtsmann schläft gerade. Weihnachtsmann zu sein ist auch nicht besonders leicht, weißt du?«
Ich sah die sechs Männer völlig irritiert an und versuchte mich zu beruhigen.
Der Weihnachtsmann. Ok. Gut.
»Hier wohnt also der Weihnachtsmann? Ich bin elf Jahre alt. Da glaube ich doch nicht mehr an den Weihnachtsmann.«
Gerade in diesem Moment kam ein Engel die Treppe herunter geflogen, was mich nun vollends davon überzeugte, dass etwas schiefgegangen war mit meinem Kopf. War ich gestürzt und träumte? War ich vielleicht im Koma?
Der Engel war in etwa so groß wie die kleinen Kobolde. Er trug ein weißes Kleid und seine Haare fielen in goldenen Locken den Rücken hinunter. Zwischen den Haaren stand nach links und rechts jeweils ein Flügel ab. Genauso hatte ich mir einen Weihnachtsengel immer vorgestellt.
»Siehst du, das ist Amaliel«, sagte einer der Kobolde, dessen Namen ich mir jedoch nicht gemerkt hatte.
»Ein Kind!«, rief Amaliel erstaunt. »Ich wusste du wirst kommen.«
Sie flog direkt auf mich zu, erst kurz vor mir bremste sie ab und blickte mich aus hellblauen Augen an. Dann streichelte sie mir mit ihrer zarten Hand sanft über die Wange und lächelte.
»Du wusstest, dass ich kommen würde?«, fragte ich unsicher und wich einige Schritte zurück, doch da war bereits die Haustür.
»Naja, also ich hatte eher gehofft, dass du kommen wirst. Aber ist auch nicht so wichtig. Wir freuen uns natürlich, dass du da bist.«
»Ja, weil wir -« Doch weiter kam Michi nicht, denn da erntete er schon einen vorwurfsvollen Blick von Amaliel.
»Es ist alles in bester Ordnung. Fühl dich bei uns in Joulumaa der Welt von Weihnachten herzlich eingeladen. Komm doch endlich richtig rein.« Ich war in Joulumaa? Im Moment wunderte mich das gar nicht so sehr und als ich die Weihnachtskobolde ansah, die für mich erwartungsvoll zurücktraten, bestätigte sich diese Einstellung in mir.
Weihnachtskobolde!
Weihnachtsengel!
Weihnachtsmann!
Was auch immer geschehen war, ich war in Joulumaa.
Im Haus sah alles sehr gemütlich aus. In der Mitte stand ein langer Tisch, der mit acht Tellern Keksen, Lebkuchen und Marzipan sowie einer großen Teekanne gedeckt war. Amaliel fügte noch schnell einen neunten Teller hinzu, während ich mich weiter umsah. Vor dem langen Fenster stand ein ebenso langes Regal, mit Bildern, Kerzen, Büchern oder Schokoladenweihnachtsmännern darauf. Auf der anderen Seite des Raumes führte eine Treppe aus Holz nach oben und links daneben stand ein Herd. Es gab auch noch zwei weitere Türen, die jedoch geschlossen waren. Auf der rechten Tür stand mit goldener Schrift das Wort »Weihnachtsmann« geschrieben.
Ich blinzelte einige Male, um mir dem wirklich sicher zu sein und überlegte immer noch, ob das alles vielleicht nur ein Scherz war.
Ein Kobold nahm mir meine Jacke ab und legte sie auf einen Stuhl. Ein anderer bot mir einen Platz am Tisch an und ich setzte mich.
»Ich werde mal dem Weihnachtsmann Bescheid sagen, dass du da bist. Er wird es nicht glauben können«, sagte ein weiterer Kobold und huschte davon. Er klopfte an die Tür des Weihnachtsmannes und kurze Zeit später öffnete sich die Tür knarzend.
Ein großer, kräftiger Mann trat heraus.
Er hatte silbergraues, dickes, schulterlanges Haar und einen Bart. Er sah genauso aus wie ich mir den Weihnachtsmann immer vorgestellt