Sie betrachtet ihn kurz. „Nichts gebrochen, aber hilfst du mir gleich, ihn zu verbinden?“
„Selbstverständlich.“
Es folgt eine weitere Schweigeminute.
„Okay, wie ist der Plan?“, will ich wissen.
„Ich rufe Alvar an und sage ihm, dass wir uns auf den Weg machen. Schau dich nochmals in deinem Zimmer um, ob du auch nichts vergessen hast. In einer Stunde fahren wir los.“
„Ich will nicht weg, Mama“, sage ich leise und kämpfe mit den Tränen.
Seufzend nimmt sie mich in die Arme. „Ich auch nicht, mein Schatz, aber wir haben keine andere Wahl. Es geht ums Überleben. Ich habe dich dreimal fast verloren. Noch einmal werde ich das nicht riskieren.“
Ich schließe meine Augen und vergrabe mein Gesicht an ihrer Schulter.
Ich stehe vor meinem Bett und blicke mich in meinem kleinen Zimmer um. Es ist so weit. Abschied nehmen. Ich packe noch ein paar Badutensilien ein, dann schalte ich das Licht aus und gehe die Treppe hinunter.
Liliana hat bereits alles in ihren Golf gepackt. Der ist definitiv in einem besseren Zustand als mein altersschwacher Fiat, und weitaus geräumiger. Trotzdem schiele ich sehnsüchtig zu meinem kleinen Auto rüber und bilde mir ein, dass es mir ebenfalls traurig entgegenblickt.
Liliana nimmt mir die Reisetasche ab und schiebt sie in die letzte Lücke des Kofferraums. Jetzt passt wirklich nichts mehr hinein.
„Hast du Alvar erreicht?“, frage ich.
„Ja, und er war geschockt, als ich ihm von dem dritten Angriff berichtete.“
„Hast du ihn auch auf die drei Pelzköpfe angesprochen?“
„Ja, aber er wollte am Telefon nichts erzählen. Er sagte nur, dass wir sie unbedingt mitbringen sollen.“
„Aber es sind trotz allem Katzen!“, erwidere ich verwirrt. „Wir haben über tausend Kilometer vor uns und können sie nicht stundenlang in einen Katzenkorb sperren. Abgesehen davon haben wir noch nicht mal welche.“
Liliana zieht belustigt eine Augenbraue hoch. „Angyalom, ernsthaft jetzt? Nach allem, was passiert ist, glaubst du noch, dass sich diese drei in einen Katzenkorb sperren lassen? Wir wissen doch wohl beide, dass das keine normalen Hauskatzen sind?!“
„Nein, natürlich nicht, aber … ach Gott, ich weiß auch nicht.“
„Vorschlag zur Güte, wir fragen sie einfach selber?“, sagt sie und beginnt zu kichern, als sie meinen verdutzten Gesichtsausdruck sieht.
Sie läuft zur hinteren Beifahrertür und öffnet sie. Dann wendet sie sich an die Pelzköpfe, die uns neugierig beobachten, und sagt: „Na, Jungs, wollt ihr hierbleiben, wo ihr es bequem habt, oder uns in diesem kleinen, engen, klapprigen Auto, das die ganze Nacht schaukeln und wackeln wird, nach Budapest begleiten?“
Drei schwarze Fellknäuel schießen, kaum dass Liliana ihren Satz beendet hat, auf den Rücksitz und kringeln sich schnurrend ein.
„Ich schätze, das Problem wäre gelöst“, sagt sie fröhlich und schlägt die Wagentür zu.
Ich versuche es erst gar nicht zu begreifen und laufe ums Auto herum.
„Also?“ Liliana schaut mich fragend an.
„Also los“, antworte ich und steige ein.
„Ich fahre als Erstes, versuche du, ein wenig zu schlafen. Wenn ich müde werde, löst du mich ab. Ist das okay für dich?“, fragt sie und legt den Gurt an.
„Ja, sicher, kein Problem.“
Als der Wagen losrollt, drehe ich mich noch einmal um und betrachte traurig mein geliebtes Zuhause. Ich habe hier so viele glückliche Jahre verbracht und Fetzen von schönen Erinnerungen tauchen vor meinem geistigen Auge auf.
Ich beobachte, wie es langsam hinter einem Hügel verschwindet, dann drehe ich mich zurück und starre stumpf in die Dunkelheit, die uns langsam verschluckt.
Der Neubeginn
13
Wir fahren auf der A3 Richtung München. Es ist drei Uhr morgens und bis auf ein paar vereinzelte Wagen sind wir alleine auf der Autobahn. Ich habe meinen Kopf ans Fenster der Beifahrertür gelehnt und blicke hinaus in die Dunkelheit.
Normalerweise müsste mein Verstand laut rattern, aber ich empfinde in mir nur Leere, als hätte mir jemand mein Gehirn entnommen und durch Watte ersetzt.
Liliana scheint in Gedanken versunken, da ihre Kiefermuskeln zucken.
Ich drehe mich nach hinten und betrachte die schwarzen Fellknäuel, die zusammengerollt friedlich auf dem Rücksitz schlafen. Es ist fast unfassbar, dass diese kleinen Rabauken vor noch nicht mal vier Stunden riesige, gefährliche Raubtiere waren – ehrlich gesagt, kann ich es immer noch nicht glauben.
Eigentlich ist es verboten, Tiere ohne angeschnallten Korb zu transportieren, aber was ist an der ganzen Situation schon normal?
Ich drehe mich wieder nach vorne. „Mama, darf ich dich was fragen?“
„Selbstverständlich, Liebes.“
„Wie ist diese Sophia so?“
„Oh Gott, Anja, von allen Fragen musstest du mir die schlimmste stellen“, antwortet sie und lacht bitter. „Sophia ist … nun ja … speziell.“
„Speziell?“
„Sie ist eine mächtige Frau, die es gewohnt ist, Befehle zu erteilen, die sofort und ohne Widerspruch ausgeführt werden. Von ihren Untergebenen erwartet sie absoluten Gehorsam! Freidenker, Reformen und Veränderungen, egal welcher Art, sind ihr höchst zuwider. Traditionen und strenge Regeln stehen bei ihr über allem. Sie ist arrogant, stur und völlig humorlos. Wir haben uns noch nie leiden können.“ Grinsend wirft sie mir einen Seitenblick zu. „Aber ich will nicht schlecht über sie reden.“
„Ja, ja, schon klar.“ Kichernd schlage ich vor, kurz für einen Kaffee anzuhalten, da wir schon eine Weile unterwegs sind und ich das Steuer übernehmen will. Schlafen kann ich eh nicht und vielleicht lenkt mich das Autofahren ein wenig ab. Liliana begrüßt diesen Vorschlag und fährt beim nächsten Parkplatz raus. Wir frösteln etwas, als wir aussteigen, aber die frische Luft tut gut. Ich nehme die Thermoskanne aus dem Korb und schraube den Verschluss ab. Heißer Dampf steigt auf, als ich die Tassen fülle, und Liliana öffnet die Beifahrertür. „Hey, ihr Mäusetiger, wir machen einen kurzen Halt. Also wenn ihr austreten wollt, dann hurtig.“
Kaum, dass sie die Worte ausgesprochen hat, schießen auch schon drei schwarze Blitze aus dem Wagen.
„Ich wage es gar nicht zu fragen, aber verstehen sie uns? Ich meine, die menschliche Sprache?“ Erstaunt blicke ich ihnen hinterher, wie sie in den Büschen verschwinden.
„Ich habe keine Ahnung“, antwortet Liliana kopfschüttelnd.
Ich sollte wohl langsam aufhören, in normalen Maßstäben zu denken.
Eine Zeitlang genießen wir schweigend unseren Kaffee, aber ich bin neugierig. „Du hast gesagt, dass Sophia eine sehr mächtige Frau ist, aber irgendwie werde ich das Gefühl nicht los, dass Alvar im Hintergrund die Strippen zieht.“
Sie schmunzelt über ihren Tassenrand. „Gut erkannt, Angyalom, aber ich verstand seine Funktion schon damals nicht. Und ich habe mich nicht getraut, Fragen zu stellen, da mich diese Menschen und dieses pompöse Haus furchtbar einschüchterten.“
„Du und schüchtern?“, frage ich lachend. „Das kann ich mir so gar nicht vorstellen.“
Sie zwinkert frech.
Ich hole die belegten Brote aus dem Korb und reiche Liliana eins rüber. „Warum haben sie sich für die Residenz gerade Budapest ausgesucht?“,