„Mit anderen Worten: Wir suchen einen über ein Meter neunzig großen Kerl mit großen Füßen und einen Hundefreund“, fasste ich zusammen.
„Ich gebe zu, dass wir schon bessere Täterbeschreibungen hatten – aber das ist immerhin ein Anfang.“
Max Carter schaute in seinen Unterlagen herum und fand schließlich, wonach er gesucht hatte. „Auf Dustin Jennings treffen die Merkmale des Fahrers zu“, stellte er dann fest. „Er ist 1,91 m groß und trägt Schuhe der Größe 45, wie bei seiner erkennungsdienstlichen Behandlung festgestellt wurde.“
„Das wird unsere nächste Aufgabe sein: Jennings dingfest zu machen. Es läuft eine Großfahndung nach ihm. Er kann das Land nicht verlassen und es wird sehr schwer für ihn werden, sich auf die Schnelle neue Papiere zu besorgen! Dazu hat der Fall um die Ermordung Longorias einfach zu viel Wirbel gemacht.“
„Sie haben Recht, da wird sich niemand in die Nesseln setzen wollen, indem er Jennings hilft. Aber ich persönlich glaube gar nicht, dass er die Bronx verlassen wird.“
„Stimmt, solange seine Gang zu ihm hält, hat er dort wahrscheinlich wenig zu befürchten und wir können monatelang die Nadel im Heuhaufen suchen, während er von einem Versteck zum anderen pendelt!“, glaubte Clive Caravaggio. Der Italoamerikaner nippte an seinem Kaffeebecher und stellte ihn dann auf den Tisch.
„Heute Nachmittag ist jedenfalls erst einmal Ihr Erscheinen auf dem St. Joseph’s Cemetery in Riverdale gefragt“, eröffnete und Mister McKee. „Staatsanwalt Longoria wird dort zu Grabe getragen. Wir haben lange und gut mit ihm zusammengearbeitet und ich denke, es wäre angemessen, wenn sich unser Field Office dort in ansehnlicher Stärke zeigt. Dass ein dunkler Anzug mit entsprechender Krawatte Pflicht ist, brauche ich Ihnen ja wohl nicht näher zu erläutern.“ Mister McKee trank nun auch seinen Kaffee leer und blickte dann in die Runde. „Davon abgesehen ist es immer ganz interessant zu sehen, wer sich auf so einer Beerdigung alles zeigt. Im Moment deutet zwar vieles darauf hin, dass Longorias Tod mit diesen Gangs in der Bronx zusammenhängt, aber wir sollten andere Spuren nicht völlig außer Acht lassen. Eine davon dürfte sich übrigens erledigt haben.“
„Wovon sprechen Sie jetzt, Mister McKee?“, fragte ich.
„Von Jason Carlito. Sie erinnern sich: Longoria sorgte für seine Verurteilung wegen Mordes, aber später stellte sich auf Grund verbesserter Methoden zur DNA-Methoden seine Unschuld heraus.“ Eine tiefe Furche erschien auf Mister McKees Gesicht. „Leslie und Jay sind der Sache nachgegangen. Carlito wurde während der Haft drogensüchtig, benutzte ein infiziertes Besteck und war seitdem mit HIV infiziert.“
„War?“, echote ich.
Mister McKee nickte. „Gestern Abend rief mich Robert Thornton an, der bis zur Wahl eines Nachfolgers Longorias Abteilung kommissarisch leitet. Bei ihm hat sich Carlitos Frau gemeldet. Carlito ist gestern an den Folgen seiner Aids-Erkrankung gestorben. Auch wenn er es nach außen wohl ziemlich gut kaschieren konnte, wurde bei ihm schon vor längerer Zeit das Vollbild der Krankheit diagnostiziert. Mrs Carlito macht die Staatsanwaltschaft für den Tod ihres Mannes verantwortlich.“
„Wer ist schon ohne Fehler?“, meinte Milo. „Wir können nur so gut und sorgfältig wie möglich unsere Arbeit machen und versuchen, nicht betriebsblind zu werden. Aber es ist niemals ausgeschlossen, dass man sich schlicht und ergreifend geirrt hat, sodass ein Unschuldiger hinter Gitter kommt!“
„Aber das Beispiel von Mister Carlito sollte uns allen zeigen, dass man auch die kleinsten Indizien und leisesten Zweifel nicht einfach ignorieren darf, nur weil man den Fall abschließen möchte oder auf Grund von Vorurteilen von der Schuld des Täters überzeugt ist“, ergänzte Mister McKee.
Dem konnte niemand von uns ernsthaft widersprechen.
Wenig später, als wir im Korridor auf dem Weg zu unserem gemeinsamen Dienstzimmer waren, raunte Milo mir zu: „Dafür, dass Mister McKee sich eigentlich weitgehend aus dem Fall heraushalten wollte, hängt er sich für meinen Geschmack aber ziemlich in die Sache hinein!“
„Professionelle Distanz ist halt immer ein schwieriges Kapitel“, erwiderte ich.
22
Gegen 14.00 Uhr fanden wir uns auf dem St. Joseph's Cemetery in Riverdale ein und mischten uns unter die große, fast unüberschaubare Gruppe der Trauernden, die James Longoria das letzte Geleit geben wollten. Nur ein Bruchteil von ihnen fand in der kleinen Kapelle Platz.
Das NYPD hatte fast fünfzig Beamten bereitgestellt, die für Sicherheit sorgen sollten. Aber das Interesse der New Yorker am Begräbnis Longorias hatten die zuständigen Einsatzleiter augenscheinlich unterschätzt.
An eine Durchsuchung der Trauernden nach Waffen oder dergleichen war schon angesichts der Menge gar nicht zu denken. Daran änderte auch der Umstand nichts, dass man es sich bei den Kollegen der City Police anscheinend doch noch anders überlegte und eine Verstärkung von 25 Mann schickte.
Robert Thornton, der stellvertretende Staatsanwalt, war ebenfalls anwesend. Er hatte Longorias Weg lange begleitet und war mit ihm zusammen aufgestiegen. Jetzt füllte er kommissarisch das Amt des Verstorbenen aus und man gab Thornton auch gute Chancen, die anstehende Wahl eines Nachfolgers zu gewinnen. Die Tatsache, dass man ihn mit der Geradlinigkeit und Härte des Verstorbenen James Longoria identifizierte und er immer als dessen treuer Paladin gegolten hatte, würde ihm nun wohl zu gute kommen.
Thornton hielt sich in der Nähe der schwarz gekleideten Witwe auf, die in Begleitung von Miles Buchanan an der Trauerfeierlichkeit teilnahm. Mrs Longorias Gesicht war durch einen schwarzen Netzschleier verdeckt. Buchanan wirkte etwas nervös, wobei mir nicht ganz klar war, was dafür die Ursache sein mochte.
Longoria war italienischer Abstammung und so hatte eigentlich jeder damit gerechnet, dass die Feier nach katholischem Ritus durchgeführt werden würde.
Das war aber nicht der Fall.
Von Mister McKee erfuhr ich, dass Longorias Mutter eine strenggläubige Methodistin gewesen war und in der Familie in Glaubenssachen das Sagen gehabt hatte.
Der Sarg wurde nach der Feier in der Kapelle hinaus auf den Friedhof getragen und in die Grube gesenkt.
Nacheinander traten die engeren Verwandten und Bekannten ans Grab, warfen dem Verstorbenen ein paar Rosen nach und etwas Erde hinterher.
Die Masse schaute schweigend zu. Ein Posaunenchor spielte ein Kirchenlied. Der methodistische Pfarrer stand mit ziemlich versteinertem Gesicht daneben.
Eine Frau fiel mir auf. Sie hatte drei weiße Nelken in ihrer rechten Hand und drängelte sich vergleichsweise rabiat zwischen den Trauergästen hindurch.
Zunächst wurde niemand auf sie aufmerksam. Ihr Gesicht war im Schatten der Kapuze eines Dufflecoats verborgen.
Dann hatte sie es endlich geschafft, sich bis zum Grab vorzumogeln.
Sie trat vor, warf die Blumen in die Höhe, so dass sie sich zerstreuten und zumeist auf dem Erdhaufen neben dem Grab landeten. „James Longoria war ein Mörder!“, rief sie. „Er hat meinen Mann umgebracht und kein Gericht hat das je geahndet!“
Mir fiel auf, dass sie dauernd eine Hand durch die Öffnung zwischen den