In diesem Augenblick tauchte drüben am anderen Ufer ein dreiachsiges Radfahrzeug auf. Eine Patrouille der chinesischen Armee, wie unschwer an der Tarnbemalung und der Standarte am Heck des leicht gepanzerten Mannschaftswagens zu erkennen war. Er fuhr vorsichtig das letzte Steilstück zur Brücke hinunter.
Tsamcho fluchte leise und ganz und gar unaristokratisch. »Wie ich vermutete«, sagte er halblaut, »eine von Oberst Xiangs Patrouillen.«
Langsam schob sich das Fahrzeug auf die Brücke und kroch über die Planken.
Fast sah es so aus, als käme es hinüber. Aber kurz vor dem anderen Ufer geschah, was der Tibetaner mit seiner Aktion bezweckt hatte: Das letzte Stück der Brücke verschwand plötzlich in der Tiefe. Mit der Vorderachse blieb das Fahrzeug der chinesischen PPB-Patrouille an der Kante des Abbruchs hängen und rutschte langsam nach vorn. Für eine Sekunde hatte man den Eindruck, als würde der Rest der hölzernen Konstruktion den Wagen halten – doch dann stürzte er ab und riß den Überrest der Brücke mit sich in die Tiefe. Aufspritzend fiel er ins Wasser, legte sich etwas auf die Seite. Während die Holztrümmer von den Fluten weggespült wurden, flogen die Luken auf, und die Soldaten kletterten unter lautem Rufen und Schimpfen über die Flanken ins Wasser, um zu Fuß an Land zu waten.
»Sieht nicht gut aus«, murrte Tsamcho. Sie werden Hilfe herbeirufen. Wir müssen uns sputen, unser Ziel zu erreichen, ehe es hier vor Militär nur so wimmelt. Zum Glück wissen sie nicht, dass wir das Fiasko verursacht haben. Sie werden also erst einmal versuchen, sich eine Strategie für ihr ›Versagen‹ zurechtzulegen. Was uns den entsprechenden Vorsprung geben wird.«
»Wie weit haben wir's noch?«, fragte Conroy.
»Nach der Karte sind es zirka hundert Kilometer bis zum Dorf. Wir müssten es vor Einbruch der Nacht erreichen.«
»Dann sollten wir uns beeilen.«
Sie kehrten zum Buggy zurück
Tsamcho schob sich hinter das Steuer. Langsam rollte er los; erst als er sicher war, dass ihn die Soldaten unten in der Schlucht nicht mehr hören konnten, beschleunigte er das Gefährt.
Über dem Land hing jetzt ein feiner Dunstschleier, der die Entfernungen verzerrte.
»Wir werden bald Schnee bekommen«, erklärte der Tibetaner, der in seiner Landestracht so gar nicht hinter das Steuer des modernen Kampfbuggys des Pan-Pazifischen Blocks zu passen schien. Er versuchte, wo immer es ging, die Geschwindigkeit zu erhöhen.
Das Fahrzeug sprang oft meterweit über Bodenwellen oder bretterte halsbrecherisch durch Rinnen und Vertiefungen. Mit stoischer Ruhe hielt sich Morton an den seitlichen Rammbügeln fest. Am Himmel erschienen die ersten dunklen Wolken; Vorboten des von Tsamcho prophezeiten Wetterumschwunges.
Das Terrain wurde ebener. Tsamcho trat das Gaspedal durch, und der Buggy raste mit zunehmendem Tempo dahin. Conroy hüllte sich in seine Schuba und stemmte die in Stiefeln aus weichem Jakleder steckenden Füße gegen das Bodenblech.
Die Wolken am Himmel ballten sich immer drohender zusammen und warfen lange, dunkle Schatten über das Hochplateau.
Etwa eine Stunde später begann es in großen, leichten Flocken zu schneien. Tsamcho mußte die Scheibenwischer einschalten. Die Berge kamen näher; dunkle, drohende Wände, im eigenartigen Licht ihrer Schnee- und Eisflächen schimmernd.
Schließlich hielt Tsamcho an und berührte Conroy, der neben ihm döste, leicht an der Schulter. Das Dorf Salhée lag vor ihnen in einem weiten Tal an einem Flussufer. Es bestand aus einer Reihe flacher, aus Stein errichteter Häuser; sie erstreckten sich in Terrassen den gegenüberliegenden Berg hinauf.
»Weiß man von unserer Ankunft?«, fragte Morton, während der Dolpo-Pa das Fahrzeug langsam im niedrigen Gang den steilen Weg hinunterrollen ließ. Als sie sich dem Dorf näherten, liefen ihnen ein paar kläffende Hunde entgegen. Ihr Bellen klang in der von Schnee erfüllten Luft irgendwie dumpf.
»Natürlich«, erwiderte Tsamcho, und ein leichtes Lächeln huschte über sein Gesicht.
Den Grund sah Conroy, noch ehe sie die ersten Häuser erreicht hatten: Am anderen Ende des Dorfes erhoben sich die filigranen Finger eines Funkmastes auf einer kleinen Erhebung. Natürlich. Die Tibetaner hatten zwar im Schutz ihrer hohen Bergketten ihre Traditionen auch nach der erneuten Invasion der Chinesen – jetzt unter dem Protektorat des Pan-Pazifischen Blocks – retten können und hielten überwiegend daran fest. Das hieß aber nicht automatisch, dass sie sich nicht der vorrückenden Zivilisation anpassten. Conroy wusste, dass sich selbst in den entlegensten Dörfern das Computerzeitalter längst etabliert hatte – und nicht wenige Mitglieder dieses zähen Bergvolkes waren in der Raumfahrtindustrie beschäftigt.
Am Flussufer weideten Jakherden. Vor dem Dorf standen die vertrauten schwarzen Spitzzelte der Hirten. Die Behausungen der Nomaden bestanden selbst kurz vor Beginn des 22. Jahrhunderts noch aus zusammengenähten Jakhäuten, die über ein Gerüst aus zerlegbaren Fiberglasstäben gezogen waren; einziges Zugeständnis an die moderne Zeit. Früher hatte dieses Gerüst ausschließlich aus Zweigen bestanden. Jedes der Zelte war von einem runden Steinwall umgeben mit einer Feuerstelle vor dem Eingang. Zwischen den Zelten spielten Kinder; neugierige Gesichter wandten sich ihnen zu, als sie vorüberrollten. Tsamcho hielt auf das größte Haus in der Mitte eines Platzes zu. Es hatte zwei Stockwerke und ein Flachdach wie die anderen Gebäude des Dorfes auch. Eine hohe Mauer umgab das ganze Grundstück. Sie fuhren durch das Tor auf den Innenhof. Tsamcho hielt den Buggy vor der Tür an und schaltete den Motor aus. Dann stieg er die Stufen zur Haustür hinauf, dicht gefolgt von Morton Conroy. In diesem Augenblick ging die Tür auf. Der Dorfälteste trat zur Begrüßung heraus. Er verneigte sich ehrerbietig vor Tsamcho.
»Willkommen«, sagte er ruhig, fast feierlich, »es freut mich, dich wiederzusehen.«
»Die Freude ist auf meiner Seite«, erwiderte der tibetanische Aristokrat und neigte leicht den Kopf. »Das ist mein Begleiter Conroy.«
»Auch er ist mir willkommen. Doch tretet ein und wärmt euch am Feuer.«
Während sie ins schützende Haus gingen, registrierte Conroy noch, wie ein paar Männer den Buggy unter ein Vordach schoben und ihn mit Bündeln von Gerstenstroh vor allzu neugierigen Blikken verbargen.
Der Raum war allem Anschein nach die gute Stube des Hauses. Die Wände waren verputzt und bemalt, der Holzboden sauber geschrubbt und mit Schaffellen belegt. In dem großen, offenen Kamin brannte getrockneter Jakdung mit hellen Flammen. Die große Multivisionswand in einer Ecke wirkte wie ein Fremdkörper.
»Kommt zum Feuer«, bat der Alte.
Eine Frau in der typischen Landestracht hantierte an der Feuerstelle und bereitete Tee zu.
Wenig später hielt Conroy einen Becher in der Hand und trank genussvoll den gesalzenen und mit ranziger Jakbutter versetzten Tee, zu dem Stücke von Hammelbraten mit Reiskuchen gereicht wurden.
»Du hast besorgt, worum ich dich bat?«, fragte Tsamcho, nachdem sie gesättigt waren.
»Ja. – Zwei meiner besten Führer und ein paar Jaks stehen morgen früh bereit. Aber...« er zögerte einen Augenblick, und in seiner Stimme schwang ein Ausdruck von Verwunderung mit, »was will dein Freund dort oben? Es ist ein alter Karawanenpfad, der einmal über die Berge hinüber zu den Salzseen von Kiong Tschongra führte, ehe die gelben Teufel ihn sprengten, als sie das ganze Land dort zu militärischem Sperrgebiet erklärten. Jetzt endet er im Nirgendwo.«
»Wir werden nicht weiter als bis zum Ringmo-Plateau aufsteigen«, beschied ihm Tsamcho, und der Tonfall seiner Stimme riet dem Alten, nicht weiter zu forschen. Wenig später suchten sie ihre Schlafkammern auf.
In Conroys Raum brannte ein angenehm wärmendes Feuer. Er stellte die Öllampe auf den Tisch neben dem Bett und öffnete das Fenster. Es hatte aufgehört zu schneien, der Wind war frisch und klar, der Himmel leergefegt von Wolken. Der Mond schien und warf sein gespenstisches Licht über die Häuser des Dorfes. Morton atmete tief den Duft der kalten Erde ein. Die frische Luft füllte seine Lungen und klärte seinen