»Das Hauptproblem von Reisen zu fernen Systemen ist nach wie vor der Antrieb, meine Herren. Wenn es um den Flugverkehr zum Mond und um die Überwindung noch weiterer Entfernungen innerhalb unseres Systems geht – Mars, Asteroidengürtel, Saturnmonde – ist das von den russischen Wissenschaftlern ursprünglich entwickelte und zur Serienreife gebrachte Ionentriebwerk ausreichend. Geht es aber um Reisen zu den nächsten Sonnensystemen, ist die Konstruktion größerer und effizienterer Ionentriebwerke keine hinreichende Lösung des Problems.«
»Das Eurasische Commonwealth hat also einen anderen Weg gefunden?«
Coulson schüttelte den Kopf.
»Noch nicht. Aber ich vermute, dass sie der richtigen Lösung schon auf der Spur waren.«
»Waren?«
Ohne auf Conroys Frage einzugehen, fuhr Coulson fort: »Seit 2056 experimentierten die beo-russischen Wissenschaftler zusammen mit deutschen und britischen Kapazitäten der Astrophysik sowie Mathematik an einem Projekt, mit der Energie der Sterne den Raum zu krümmen und diese Krümmung unmittelbar als Antriebselement auszunutzen.«
»Das klingt aber stark nach Science Fiction«, meinte Conroy.
»Wenn es nur so wäre, Oberleutnant«, sagte Coulson ernst. »Tatsächlich handelt es sich um harte Fakten. In Russland wurde schon länger in diese Richtung geforscht. Und zwar höchst intensiv. Doch rasch stellte sich heraus, dass die Entwicklungskosten eines vernünftigen Raumkrümmungsantriebs die finanziellen Möglichkeiten des gesamten beo-russischen Staatengebildes und der damaligen Europäischen Union sprengen würde. Also nahm man, vermutlich zähneknirschend und mit allen Vorbehalten, Kontakt zu den anderen Staaten auf, um die Entwicklung dieses Antriebs einem internationalen Konsortium zu übertragen. Da auch China und die meisten südostasiatischen Länder Interesse zeigten, einigte man sich darauf, die Forschungsstation im Kaschmirgebirge zu errichten, weitab von jeder Zivilisation, geschützt von gewaltigen Gebirgszügen. Man nannte den geheimen Laborkomplex ›Basis Alpha‹, von A wie Anfang, und das ganze Projekt lief unter der Bezeichnung ›Geheimprojekt Exodus‹, wegen des Ziels, das dahinterstand, nämlich die Möglichkeit, zu den Sternen auszuwandern, sollte die Erde unbewohnbar werden. Ich hatte damals maßgeblich mit der Auswahl unserer Wissenschaftler für Basis Alpha zu tun, deshalb bin ich mit den Interna vertraut. Seit zwanzig Jahren forscht und arbeitet eine Gruppe internationaler Wissenschaftler an dem Projekt Exodus. Führende Männer und Frauen der Gravitonik, der Nichteuklidischen Geometrie und der Teilchen- sowie der Astrophysik arbeiten an einer praktikablen Lösung des Problems, wie man den Raum verändern könnte, um ohne nennenswerten Zeitverzug von einem Sternensystem zum anderen zu gelangen.«
»Und?« Morton Conroy lehnte sich vor. »Hat man eine Lösung gefunden?«
Coulsons Brille schien endlich sauber. Er hielt sie prüfend gegen das Licht, ehe er sie aufsetzte.
»Wir glauben es«, sagte er. »Darf ich Sie vielleicht an dieser Stelle mit ein paar technischen Bemerkungen belästigen?«
»Nur zu«, nickte Conroy.
»Ich weiß nicht, welche Kenntnisse von der Materie der Mathematik ich bei Ihnen voraussetzen darf, Oberleutnant, aber sicher ist Ihnen die Einsteinsche Formel bekannt, nach der Materie nichts anderes ist als eine Erscheinungsform der Energie?«
»E = mc2«, zitierte Morton Conroy. »Noch kann ich Ihnen folgen, Professor Coulson«
Coulson fuhr lächelnd fort: »Unter den britischen Wissenschaftlern war auch Chris Auborn, den ich für den bedeutendsten Mathematiker aller Zeiten halte.«
Conroy zog die Stirn in Falten. »Den Namen habe ich doch schon einmal gehört.«
»Vermutlich. Chris hat in seiner Zeit als Kadett an der Militärakademie – noch ehe er sich der Mathematik zuwandte – ein paar wehrtechnische Abhandlungen veröffentlicht, die, wie's scheint, noch immer zur Standardlektüre angehender Offiziersanwärter gehören. Bekannter jedoch ist seine vielbeachtete Doktorarbeit, in der er den Nachweis erbrachte, dass Energie nur eine andere Erscheinungsform des Raumes ist. Bei seiner Beweisführung handelte es sich um eine äußerst gewagte Extrapolation der Nichteuklidischen Geometrie, die nicht weniger revolutionär war als damals Einsteins Relativitätstheorie.«
»Jetzt muss ich passen«, gab Conroy zu.
»Machen Sie sich nichts daraus«, meinte Coulson. »Es geht nicht nur Ihnen so. Auborns Theorie war so kompliziert, dass es seinerzeit wahrscheinlich nur zehn Gehirne auf der Erde gab, die sie begreifen konnten. Deshalb geriet sie nach anfänglichem Interesse in den akademischen Kreisen der Universitäten und Lehranstalten auch folgerichtig wieder in Vergessenheit. Es war eben nur reine Theorie ohne nachvollziehbare praktische Anwendungsmöglichkeiten.«
»Wenn ich Sie recht verstehe, kommt jetzt der springende Punkt. Oder wie sonst soll ich Ihre Darlegung verstehen?«
Coulson nickte.
»Ich hatte einmal Kontakt mit ihm, als es darum ging, unsere Wissenschaftler für die Station auszusuchen. Dabei erwähnte er so nebenbei, dass er jetzt die Lösung seines Problems gefunden habe.«
Conroy beugte sich vor. »Wollen Sie damit andeuten, er kann beweisen, dass man den Raum verändern kann?«
»Exakt. Der Raum, nach Auborns Worten, ist manipulierbar geworden, bis er sich in ein Feld reiner Energie verwandelt.«
»Und das ist so wichtig?«
»Wichtig? Oh, mein junger Freund!« Der Professor schüttelte nachsichtig den Kopf. »Damit verweist Auborns Formel die heutige Nuklearphysik in die Steinzeit der Wissenschaft. Praktisch gesehen, eröffnet er damit unserer und allen kommenden Generationen völlig neue Perspektiven für die stellare Raumfahrt. Raumschiffe wären dadurch in der Lage, den Raum zu krümmen und die dafür notwendige Energie aus dem gleichen Medium beziehen.«
»Unglaublich, ganz unglaublich!«, murmelte Major Angus Santana. »Und weshalb ist diese universelle Formel bis auf einige wenige niemandem bekannt?«
»Lassen Sie mich raten«, warf Conroy ein, »sie hat Basis Alpha noch gar nicht verlassen. Richtig?«
Professor Coulson atmete tief ein, schloss die Augen und fuhr sich langsam über die Stirn. »Eine merkwürdige Geschichte«, murmelte er wie abwesend. »Der Weltwirtschaftscrash zeichnete sich zu jenem Zeitpunkt bereits ab. Unmittelbar nachdem ich von Chris' Ergebnissen erfahren hatte, riss mit einem Mal die Verbindung zur Basis ab. Und in den Wirren nach dem großen Kollaps hieß es, der Laborkomplex sei völlig zerstört worden. Wie es geschehen war und wer dafür verantwortlich zeichnete...« Professor Coulson hob die Schultern und ließ sie langsam wieder sinken. »Die auf der Erde entbrennenden Kriege, vor allem die um die Ölreserven und die moldawischen Aufstände sowie die daraus resultierende Abschottung der Staatengebilde voneinander ließen es nicht zu, den Wahrheitsgehalt dieser Informationen zu überprüfen. Und nach dem Ende der schrecklichen Kampfhandlungen hatte sich das politische Bild der Erde gewaltig verändert, wie Sie ja alle selbst wissen. Die Regierungen der drei großen Blöcke haben im Augenblick andere Sorgen, wie's scheint, als sich um eine Forschungsstation zu kümmern. Wir versuchten natürlich, den Kontakt wiederherzustellen, aber der Pan-Pazifische Block, in dessen Einflussbereich die Station liegt und der von den Chinesen dominiert wird, hat bis jetzt ablehnend reagiert. Er begründet sein Nein zu einer Kontaktaufnahme unsererseits und einer möglichen Rettungsexpedition mit Rebellenaufständen. Das ganze Gebiet wurde von den Chikoms zur verbotenen Zone deklariert, zu der Zivilisten keinen Zutritt bekommen, da ständig mit Kampfhandlungen gerechnet werden müsse. Außerdem, so ließ der für den Abschnitt zuständige Militärgouverneur verlauten, sei Basis Alpha tatsächlich zerstört.«
»Was sagt ›Watchdog‹ dazu?«, warf Angus Santana ein.
»Die FSA-Satellitenüberwachung identifizierte den Komplex mit 99,4prozentiger Wahrscheinlichkeit an der Stelle, an der er errichtet worden ist«, antwortete Oberst Sheehy an Coulsons Stelle.
»Ließen