Man zog eine Decke aus einer Carbon-Leichtstahl-Legierung, wie sie im Raumschiffsbau zur Anwendung kam, über die Schlucht und häufte Mondgeröll darauf. Die Wände wurden geglättet, Versorgungsstollen angelegt und die nötigen sanitären Einrichtungen installiert. Dann wurden die Käfigreihen übereinander an die Schluchtwände gehängt und die einzelnen Ebenen durch Entstofflichungsfelder voneinander getrennt. Auf der Mondoberfläche wies lediglich ein kleiner Raumhafen und eine 120 Meter durchmessende Kuppel von 60 Metern Höhe auf seine Lage hin. Unter dem Dom lagen die technischen Einrichtungen zur Lebenserhaltung, die Energiemeiler für die wirkungsvollen Schutzmechanismen, die Fahrzeughangars sowie die Unterkünfte der Wärter. Ein zentraler, strengstens gesicherter Versorgungs- und Liftschacht führte an der nördlichen Stirnseite von der Kuppel bis hinab auf die Sohle der Schlucht. Er verband die mit Stahlschotts und High-Tech-Sperren gesicherten Zugänge zu den Zellenebenen. Es hieß, noch nie wäre jemandem die Flucht aus STRALAG-2 gelungen.
Die Wärter nahmen einen Weg durch den Zellentrakt, der direkt zum zentralen Versorgungsschacht führte. Keine Menschenseele begegnete ihnen. Nur hin und wieder ertönte der gespenstische Widerhall von Stimmen, als kämen sie geradewegs aus der tiefsten Hölle. Ein unheimliches Requiem für all die Verdammten, die hier unten schon verreckt waren.
Die Korridore wurden breiter.
Öffnungen taten sich auf, hinter denen tiefe Dunkelheit klaffte.
Nach etwa einer Viertelstunde traten sie auf eine Galerie hinaus, die den Hauptschacht kreisförmig umschloss, und wandten sich nach rechts zur Liftanlage.
»Stopp!«
Einer der Männer tippte einen Zugangskode ein. Vor ihnen öffneten sich die großen Schiebetüren des Aufzugs.
»Rein mit dir, Großkotz!« Der MPler hatte eindeutig eine Aversion gegen alle militärischen Ränge, die über seinem eigenen lagen.
Der Lastenaufzug war groß genug, ein Fahrzeug zu befördern. Die Kabine wurde von einer flackernden, zischenden Xenonröhre erhellt. Sie erzeugte ein stroboskopisches Licht, das Conroy veranlasste, unwillkürlich mit den Augen zu zwinkern.
Die Türen glitten zu.
Eine Hand bewegte sich vor der Sensorplatte, und der Lift setzte sich in Bewegung.
Conroy murmelte: »›Immerhin‹, sagte der Frosch im Storchenschnabel, ›es geht nach oben‹.«
Die Männer blieben stumm. Musterten ihn nur. Mit Blicken, als sei er ein besonders ekliges Exemplar von Mondschabe, das sie jeden Moment unter ihre Stiefelabsätzen zu zertreten gedachten.
Conroy zuckte mit den Schultern und schwieg ebenfalls, während der Lift nach oben glitt.
Die Fahrt dauerte nicht lange. Als die Kabinentür wieder aufglitt, blickte Conroy in eine Halle hinaus, die als Hangar diente. Auf Rampen und in Boxen waren massiv gepanzerte Fahrzeuge zu sehen. Dazwischen ein paar Mondrover, die mit ihren Druckkabinen aufgeblasenen Ochsenfröschen mit Ballonrädern glichen.
»Raus!«
Conroy bekam einen Stoß in den Rücken.
»Du gehst zwischen uns!« Sie nahmen ihn in die Mitte, einer vor ihm, einer hinter ihm. »Mach voran!«
Während sie quer durch die Halle der anderen Seite der Kaverne zustrebten, hatte Conroy Grund, sich massiv zu wundern. Die beiden mochten ausgebildete Spezialisten sein, aber sie handelten nicht wie solche. Sonst hätten sie nie diese nachlässige und unter Umständen lebensgefährliche Art der Eskorte gewählt.
Wenn er es darauf anlegte, könnte er sie überwältigte.
Leicht.
Ich hätte zwei Möglichkeiten, es ihnen zu zeigen, dachte Conroy. Ich könnte den hinteren auflaufen lassen und als Deckung gegen den vorderen benutzen.
Oder umgekehrt!
Der vor ihm gehende Wärter trug neben seiner üblichen Automatik eine Handwaffe im Holster. Ein normales Schnellziehholster mit einer Diebstahlsicherung, die es jedem normalen Menschen erschwerte, ihm die Waffe zu entwenden. Für Conroys antrainierte Reflexe war das kein Hindernis. Anders sähe die Sache aus, wenn es sich um eine Handsiegel-Waffe handeln würde, dann hätte er keine Chance. Trotzdem, so erkannte er glasklar, würde es mehrere Bewegungsabläufe bedeuten, sie ihm zu entwenden und in die Hand zu bekommen. Blieb nur die Automatik. Der Wächter hinter ihm hielt seine, so gewann Conroy den Eindruck, sträflich nachlässig in der Hand; eine Otoschi-Steyer .II für den Nahkampf. Nichts für ein Gefecht im offenen Gelände, da sie erstens nicht weit genug trug und zweitens ab einer gewissen Entfernung streute wie eine Pfefferbüchse oder die Düse einer Sprinkleranlage. Aber die richtige Waffe innerhalb von Gebäuden und Einrichtungen – oder gegen Gefangenenrebellionen. Das Magazin fasste zweihundert Schuss 5,6-Millimeter-Weichmantelgeschosse. Eine Salve von fünf Kugeln, mit Hochgeschwindigkeit abgefeuert, zerriss jeden Gegner. Sie explodierten beim Aufprall, wurden breiter und entfesselten ihre ganze kinetische Energie im Körper, ohne diesen jedoch zu durchschlagen.
Es sah vielversprechend aus.
Sollte er es tun?
Natürlich!
Es schien ihm höchste Zeit, herauszufinden, welches Spiel hier ablief. Inzwischen war Conroy immer mehr zu der Überzeugung gelangt, dass alles, was ihm während der vergangenen vierundzwanzig Stunden widerfahren war, einem Schema folgte. Und wenn es das war, was er vermutete, dann würde man sich hüten, ihn zu erschießen.
Ansatzlos und für seine Wächter nicht vorhersehbar drehte er sich halb um seine Achse. Sein Fuß zuckte hoch, traf das Kniegelenk des hinter ihm gehenden Wärters. Der Getroffene stöhnte auf – es hörte sich seltsam hohl an in der Halle – aber anstatt abzudrücken, versuchte er nur, seine Waffe in Sicherheit zu bringen. Während Morton dies mit einer merkwürdigen Befriedigung registrierte, hatte er bereits das Handgelenk des Mannes gepackt und ihm mit der anderen Hand die Waffe entrissen. Er wirbelte sie hoch und rammte dem Kerl die Mündung unters Kinn, genau an der Schwachstelle zwischen Brustpanzerung und Helmkragen. Der MPler versteifte sich, erstarrte zur Reglosigkeit. Conroy sah Schweißperlen über sein Gesicht rinnen; in der Schwärze hinter seinen Pupillen erschien so etwas wie pure, beschissene Angst.
Dann hörte Conroy hinter sich ein glucksendes Lachen.
Er tat ihnen den Gefallen, fuhr herum – und blickte genau in die Mündungen der Vierlingsautomatik des Wächterrobots, der wie eine überdimensionale Spinne unbemerkt von der Hallendecke gefallen war und nun auf seinem Magnetfeldpolster über ihren Köpfen schwebte. Die Laserzielerfassung war aktiviert. Als Morton an sich heruntersah, entdeckte er das rote Zielkreuz, das wie die abgespeckte Version eines Kruzifixes für Obdachlose auf seiner Brust leuchtete.
»Waffe runter«, zischte der zweite Wächter.
Einen Augenblick war Morton versucht, es hinauszuzögern, um herauszufinden, wie weit sie gehen würden. Aber die Präsenz des Wächter-Bots war ein zu großer Unsicherheitsfaktor.
Er ließ die Waffe sinken. Trat einen Schritt zurück.
Pfeifend entwich die angehaltene Luft aus den Lungen des Wächters. Er schluckte, streckte die Hand aus.
»Gib die Kanone her!«
Conroy händigte ihm die Steyer .II mit einem schwachen Grinsen aus. »War einen Versuch wert«, sagte er mit einem Achselzucken. Der Wärter baute sich vor ihm auf. Unter dem hochgeklappten Helmvisier starrte ihn Augen voller Wut an; die buschigen Augenbrauen wuchsen über der Nasenwurzel zusammen. Dann schlug er ihn mit der flachen, in einem Gliederhandschuh steckenden Hand ins Gesicht.
Der Hieb drosch Conroys Kopf in den Nacken; er ignorierte den Schmerz, sah den Mann nur ausdruckslos an.
»Weh getan?«, fragte sein Peiniger mit falscher Freundlichkeit.
Morton