Und dann wieder diese ganz anderen Bilder. Vor der US-Botschaft in Chile wäscht er 1970 symbolisch das Sternenbanner und wird von chilenischen Soldaten verhaftet. Pressefotografen natürlich dabei. Dean Sanger mit dem Ersten Sekretär des ZK des sowjetischen Komsomol, mit Präsident Allende, Daniel Ortega, Yasir Arafat und Ernesto Cardenal.
Wie geht das alles zusammen? Hier das aufstrebende Schlagersternchen von Capitol-Records mit dem typisch amerikanischen Hang zur Selbstdarstellung und da der Kämpfer für die Rechte der Unterdrückten und Liebling der sozialistischen Massen. Der Überläufer. Verräter am American way of Life.
Und auch Ramona Sanger ist auf den Fotos. Ein pummeliger Teenager. Mit smiling Dean vor dem amerikanischen Traum aus Chrom und Weißwandreifen. Er kann kaum eine Ähnlichkeit mit der aufgeregten jungen Dame aus dem Los Angeles des vergangenen Novembers entdecken.
Nach den Fotos zu urteilen, war das doch ein ziemlich sportlicher Typ gewesen. Und der soll so einfach ertrunken sein? Für Meißner jedenfalls war die Sache klar. Aber wie weit kann man dem Leiter der MUK da trauen? Andererseits, welche Gründe sollte er haben, ein eventuelles Fremdverschulden oder gar eine Beteiligung des MfS zu verschleiern? Jetzt noch?
„Ich habe ihn noch persönlich erlebt, 1973, bei den Weltfestspielen. Unsern Dean! Draußen in Weißensee!“
Erschrocken sieht Benedict auf und in die glänzenden Augen der Staatsarchivarin.
„Darf ich mich zu Ihnen setzen?“
„Natürlich, gerne.“ Kann er der Dauergewellten wohl schlecht abschlagen. Immerhin sorgt sie für ständigen Nachschub an Raschke-Akten in der Zentralkartei. In den Augen der etwa Fünfzigjährigen liegt immer noch dieser Schimmer. So hatten auch Ingeborg Meißners Augen geglänzt, als sie über Dean Sanger sprach.
„Das gleiche Buch habe ich auch zu Hause. Sogar mit Widmung!“
Mein Gott, hatte der denn jedem in diesem Lande persönlich ein Buch gewidmet?!
„Was ich nicht verstehe, Sie sind doch von der West-Polizei, was interessiert Sie denn an Dean Sanger?“
„Sie werden lachen, ich bin zufällig in Ihren Akten auf ihn gestoßen und ... ich finde, dass er ein bemerkenswerter Mensch gewesen sein muss ..."
Als hätte er eine Schleuse geöffnet. Die Archivarin scheint ihn wirklich persönlich gekannt zu haben. „Damals in Weißensee haben wir ihm bei strömendem Regen zugejubelt. Er hat uns mit seinen Liedern alle mitgerissen. Kennen Sie ,We shall overcome‘? Alle haben mitgesungen, so feierlich war das. Wissen Sie, was er mal zu mir gesagt hat? ,Ich weiß, dass ich nicht die Welt ändern kann, aber ich bin der Meinung, dass jeder Mensch alles tun sollte, was in seinen Kräften steht, um dafür zu sorgen, dass alle Menschen auf der Welt in Glück und Frieden leben können!'“
Benedict findet das reichlich plakativ und propagandistisch, aber er möchte den Mitteilungsdrang der Frau nicht blockieren und nickt daher interessiert mit dem Kopf.
„Ich fand Dean Sanger nicht nur als Künstler, sondern auch als Menschen großartig. Besonders gefiel mir seine Bescheidenheit und Freundlichkeit. Er war ein so sensibler Mensch. Manche Kollegen hatten ja was gegen sein politisches Engagement, aber wenn sie ihn dann persönlich sahen, änderten sie ihre Meinung. Wissen Sie, dass in Potsdam sogar eine Schule nach ihm benannt wurde?“
Als Benedict später mit Marianne Theuerkorn zusammen die Stabskantine verlässt, scheint es, als habe er eine Freundin gewonnen.
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„Na, kommen Sie mit unseren neuen Kollegen zurecht?“
Mit dieser Telefoniererei ist das aber auch jedes mal ein Kreuz. Immer muss er dazu über den LKA-Beyer gehen und immer wieder dessen blöde Fragen beantworten, bevor er endlich Zugang zu dessen Funktelefon erhält.
Ganser hat zum Glück Stallwache im Düsseldorfer Präsidium.
„Seid ihr schon auf was gestoßen?“
„Du bist gut. Liefer erst mal genügend Material! War ja reichlich dünn in der letzten Woche. Wir
wollten dich beinah schon zur Fahndung ausschreiben!“
„Hab dir doch gesagt, was los war. Also notiere, oder kannst Du das auch nicht?!“
„Ich höre!“
„Günther Gronwald, geb. 12.9.1941 in Werneuchen ...“
„In was?“
„Werneuchen!“
„Sind das Namen“, stöhnt der Rheinländer am anderen Ende der Leitung gequält auf.
„Gudrun Hindemith, geb. 10.5.1934 in Leipzig. Das wirst du ja wohl kennen!“
Am Ende sind es elf Namen, die Benedict zur Abgleichung an die Kollegen vom K1 durchgegeben hat. „Und sonst? Gibt’s was Neues bei euch?“
„Nö. Die Düsseldorf Panther haben die Red Barons mit 11:0 besiegt, aber das wirst du schon wissen!“ Weiß er nicht. Der Sieg des Düsseldorfer Football-Teams ist an ihm vorbeigegangen.
„Hat Mel Crandell bei den Kölnern mitgespielt?“
„Woher soll ich das denn wissen? Ich war mit Angela zum Gedenktags-Picknick, und außerdem weißt du doch, dass ich mit American Football nichts am Hut habe!“
„Gedenktags-Picknick?“
„17. Juni, Mensch, wo lebst du denn?!“
„Ach ja, der...“
Auch davon hatte er draußen in Rauchfangswerder nichts mitbekommen.
Als Littbarski in der 89. Minute doch noch das Tor für Deutschland schießt, haut ihm Meißner so fest auf die Schulter, dass er sich fast die gesamte Bierflasche über die Hose schüttet.
„Jaaa!“, brüllt Meißner laut und tanzt vor seinem Stuhl herum. „Das ist es! Na endlich, der kleine Littbarski! Und das kurz vor Schluss, Mensch!“ Benedict versteht Meißners Aufregung nicht. Schließlich war die deutsche Mannschaft sicher im Achtelfinale und das Spiel gegen Kolumbien in Mailand reine Formsache. Ja, wenn das die Super Bowl gewesen wäre. Aber diese Kickerei ... Und wieso echauffiert sich der Meißner überhaupt so? Da spielt doch die BRD. Und warum ist der zum Fußballgucken hierher ins VP-Heim gekommen, wird doch wohl ’n Fernseher zu Hause haben.
Minuten später hat sich dann auch der MUK-Lei-ter wieder unter Kontrolle. Die Kolumbianer haben in der letzten Spielminute doch noch den Ausgleich geschafft und die Verhältnisse wieder geradegerückt.
„Ist ja von den Spielanteilen her auch gerecht“, meint er, als sie den Fernsehraum verlassen und zu Benedicts Zimmer gehen. Während der sich im Badezimmer eine neue Hose anzieht, grübelt er immer noch darüber nach, warum Meißner diesen Abend ausgerechnet im Fernsehsaal des VP-Gästeheims verbringen wollte. Wieder zurück, sieht er Meißner in dem Buch über Dean Sanger blättern.
„Immer noch auf heißer Fährte?“, fragt er den Eintretenden spöttisch und legt das Buch aus der Hand. „Sagen wir mal so: immer noch interessiert.“
„Hab Sie wohl nicht so ganz überzeugt?“
„Ja, das trifft es wohl.“
„Mm. Wär ja auch gelacht, wenn’s anders wäre. Na, dann habe ich Ihnen hier was mitgebracht, das Sie wohl endgültig überzeugen wird!“
Erstaunt blickt der Hauptkommissar auf den Umschlag, den der Leiter der MUK aus seiner Jackentasche genestelt hat.
„Vertraulich und zu treuen Händen. Ich erwarte, dass Sie mir den Bericht morgen wieder persönlich zurückgeben. Er muss wieder dahin ... wohin er gehört. Sie verstehen hoffentlich!“
Dann