Es nützt nichts. Er braucht einfach mehr Informationen über die Person dieses Sanger. Alles, was er bis jetzt weiß, hat er aus den Akten des MfS und dem beigefügten Fragebogen zum Antrag auf ständigen Aufenthalt in der Deutschen Demokratischen Republik vom 21. Juli 1973 erfahren. Und das ist dürftig genug.
Kurz vor seinem fünfunddreißigsten Geburtstag war der US-Bürger Dean Sanger, aus Rom kommend, in die DDR übergesiedelt, wo er eine Dolmetscherin geheiratet hatte, was Benedict als sehr praktisch empfand. Hatte dabei wohl auch das hilfreiche Wohlwollen des Ministeriums für Kultur genossen, dass seinen Antrag auf einen DDR-Personalausweis entschieden befürwortete. Warum die offiziellen Stellen der DDR so interessiert an dem Amerikaner waren, ist Benedict noch nicht klar. Auch nicht, wieso Dean Sanger zum Beispiel über Kontakte zur obersten Ebene der PLO verfügte, ja sogar Yasir Arafat persönlich zu kennen schien. Nein, es nützt nichts, er würde heute mal früher Schluss machen.
Der Weg zur U-Bahn ist schweißtreibend. Drückend liegt die feuchte Wärme über den Straßen der DDR-Hauptstadt.
Als der graue Wartburg der MUK neben ihm hält, ist er zuerst erleichtert, aber es ist nicht Meißner, sondern Oberleutnant Engel, der ihm die Wagentür aufhält.
„Nanu, haben Sie auf mich gewartet?“
„Nee, nee. Hatte zufällig hier in der Nähe zu tun. Kann ich Sie irgendwohin mitnehmen?“
„Ja, in die Beimler-Straße. Ist der Meißner da?“
„Hm. Wohl der Einzige. Schätze, die meisten waren heute auch an der Ackerstraße!“
„Wieso? Was war da los?“
„Presse mäßiger Mauerabbau mit Freibier und allgemeiner Verbrüderung. War ganz lustig.“
Benedict ist sich nicht sicher, wie er Engels Äußerung einschätzen soll. Ist er nun dafür oder dagegen. Merkwürdiges Zusammentreffen. Wirklich nur zufällig? Oder hatte ihn der Meißner in die Normannenstraße geschickt?
„Sagen Sie mal, Herr Engel, haben Sie schon mal was von einem Dean Sanger gehört?“
Belustigt schlägt der Oberleutnant mit einer Hand auf das Lenkrad, so als hätte der Mann aus dem Westen einen besonders guten Witz gemacht. „Haben Sie schon mal was von Dean Sanger gehört!!! Dean Sanger! Verdienter Oktoberklub-Sänger des Volkes! Amerikanischer Friedensfreund und lieb Kind der sozialistischen Tattergreise. Mensch, Herr Benedict! Sie werden kaum eine FDJlerin von Aue bis Zinnowitz finden, die früher nich’n nasses Höschen bei seinem Anblick bekommen hat!“
„Früher?“
„Na ja, is’ vorbei. Dean Sanger ist ja vor ’n paar Jahren gestorben. Wie kommen Sie denn gerade auf den?“
Benedict hat Glück. Sie haben die Einfahrt des VP-Präsidiums in der Beimler-Straße erreicht, und Engel ist anderweitig in Anspruch genommen. Mit einem „TONI 177, beende Funkbeziehung!“, meldet er sich bei der Zentrale zurück.
Hauptkommissar Meißner reißt erstaunt die Augen auf, als Benedict so unverhofft in der MUK auftaucht. Als Benedict ihm sagt, dass Engel ihn ganz zufällig an der Normannenstraße auf gegabelt hat, scheint er sich noch mehr zu wundern. Darüber wiederum ist Benedict erstaunt, da er aber im Moment ganz andere Dinge im Kopf hat, verfolgt er es nicht weiter.
„Können Sie mir nähere Auskünfte über einen gewissen Dean Sanger geben?“
Verblüfft starrt Meißner den Düsseldorfer an. „Dean... Sanger?“
„Ja. Diesen Amerikaner, der in die DDR eingeheiratet hat. Muss ’ne ziemliche Nummer bei euch gewesen sein!“
„Nu, der ist doch tot. Was woll’n Se denn mit dem auf einmal?“
Dass diese Frage kommen musste, war Benedict klar. Die Antwort, die er sich schon zurechtgelegt hatte, kommt daher leichthin und mit einem belanglosen Unterton.
„Der Raschke-Fuchs war auf den angesetzt gewesen. Hat wahrscheinlich nichts mit seinem Tod zu tun, aber aus Gründen der Ermittlungsvollständigkeit ... können Sie mir dazu mehr sagen? Auch die Umstände von Dean Sangers Tod sollen ja ein bisschen zwielichtig gewesen sein. Der ist ja wohl... angeblich ertrunken. In einem See, hier in der Nähe?“
„Dean Sanger...“
Die Art, wie Meißner den Namen im Munde herumdreht, lässt Benedict aufmerksam zuhören. Engels merkwürdiger Ausbruch vorhin im Wagen hatte seine Sinne bereits geschärft, so dass ihm nun die feinen Nuancen in Meißners Antwort nicht entgehen. So spricht man keinesfalls den Namen eines bewunderten Freundes oder geachteten Künstlers aus. Eher schon den eines beneideten Rivalen und ... eine gewisse Vorsicht, ja blockierende Zurückhaltung notiert Benedict. War es falsch gewesen, sich an Meißner zu wenden?
*
„Bis Freitag!“
„Bis Freitag?“
„Ja. Bis dahin kann ich Ihnen vielleicht etwas besorgen. Über diesen ... Sanger!“
Nein, „Victor“ war keine leichte Nuss für die Leute vom MfS gewesen. Armer Hauptmann Raschke. Er hatte da mit Sanger einen kompletten Flop fabriziert. Langfristig schien ihm das aber nicht geschadet zu haben, denn er war ja später als OibE eingesetzt worden. Oder war das ein Abschiebeposten gewesen?
Desillusioniert hatten Raschkes Obere im März 1978festgestellt: Für eine inoffizielle Zusammenarbeit mit Sanger bestehen keine Möglichkeiten. Im November des gleichen Jahres kam dann die kalte Dusche für die Leute von der Firma. Ein richtiger Hammer von ganz hoch oben, der in einem bürokratisch formulierten Abschlussvermerk seinen Niederschlag fand: Durch die Leitung der HA II wurde bekannt, dass Sanger im ZK (Büro Honecker) Beschwerde führte, dass er aufgefordert wurde, gegen die PLO zu arbeiten, was nicht den Tatsachen entsprach. Generalmajor Kratsch, Leiter der HA II wies an, die Zusammenarbeit mit S. abzubrechen. Auch bei Anrufen des S. keine weiteren Treffs zu organisieren. Aus diesem Grunde wurde zu ihm befehlsgemäß der Kontakt abgebrochen. Aus diesem Grunde erfolgt eine Archivierung der Unterlagen. Raschke, Major.
Benedict legt die Abverfügung zur Archivierung des Vorgangs zurück auf den Schreibtisch und pfeift leise durch die Zähne. Trotz der Pleite mit Sanger ist Freund Raschke also befördert worden. Na gut. Ging wahrscheinlich automatisch. Aber dieser Ami... ein Wort von ihm beim ZK, und das MfS spurte. Irgendwie stimmte das nicht mit seiner bisherigen Sicht der Dinge überein. Aus der Flut der Medienberichte über diese Organisation hatte er den Eindruck gewonnen, dass das MfS als Staat im Staate machen konnte, was es wollte. Die Tatsache aber, dass ein Wink aus dem ZK genügte, um die Leute kuschen zu lassen ... das deutete doch daraufhin, dass die Firma nur ausführendes Organ war. Wie hatte Meißner gesagt? Schild und Schwert der Partei.
Freitag Vormittag stößt der Hauptkommissar dann aber völlig überraschend auf einen weiteren Sanger-Vorgang in den Akten des nun wehrigen Majors Raschke. Der hatte sich für die ihm beigebrachte Niederlage bei Sanger gerächt. Benedict bezweifelt, dass Dean Sanger je erfahren hat, wer ihm sein PLO-Filmprojekt in der DDR vermasselt hat. Der gesammelte Schriftverkehr zwischen der DDR-Filmgesellschaft DEFA, der Abteilung Internationale Verbindungen des ZK und dem Mitglied des Politbüros Prof. Kurt Hager über Dean Sangers geplanten Film „Tel Zataar“ zeigt deutlich die Einflussnahme des MfS. Jedenfalls wird Dean Sangers Filmscript trotz Fürsprache Yasir Arafats abgelehnt. So ist das eben, wenn man kleinen Leuten auf die Füße tritt. Jedenfalls kann Benedict sich am Freitag wieder auf seine eigentliche Aufgabe konzentrieren. Raschke ist wieder in der Hauptabteilung XX „politisch-ideologische Diversion“ gelandet.
Was er über Sanger aus den Akten erfahren hat, ist immer noch wenig genug. Im Grunde genommen weiß er über ihn nicht mehr als am vergangenen Montag, wo er einen Bekannten in der Musikredaktion des WDR angerufen