„Alle aufhängen, jawoll. Nich’ mit mir!“
Sie hatten ihn gehenlassen. Sogar die Geschenke und die versteckte Konterbande, Spiegel und Stern durfte er mitnehmen. „Wenn Sie mal länger zu Besuch bleiben wollen, brauchen Sie sich nur an mich zu wenden“, hatte der MfS-Mann am Ende noch gesagt. Sie gaben ihm sogar eine Übernacht-Genehmigung. Als er am nächsten Tag zu seiner Bundeswehr-Einheit zurückkam, wurde er gleich vom Militärischen Abwehrdienst in Empfang genommen. Aus dem Offizierslehrgang wurde natürlich nichts mehr. Hatte von Glück sagen können, dass sie ihm in den monatelangen Vernehmungen nichts nachweisen konnten.
„Schweine. Alles Schweine! Aber mit mir nicht, ich bin in Bautzen gewesen!“
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Der HiWi vom Bürgerkomitee mustert ihn am Freitagmorgen mitleidsvoll. „Au, au, au! War wohl ’ne längere Sitzung gestern?“
Benedict hat sich eingerichtet. Spart sich die Teilnahme an der morgendlichen Dienstbesprechung beim K-Leiter und den ihm fremden Leuten der MUK. Nimmt seit heute auch den direkten Weg mit der S-Bahn. Über Bahnhof Lichtenberg. Er kommt auch mit den Leuten in der Zentral-Kartei ganz gut zurecht. Die Frau vom Staatsarchiv trägt alle Akten, die sie ihm auf den Tisch legt, fein säuberlich in eine Liste, und der ehemalige Mitarbeiter des MfS antwortet ihm bereitwillig, wenn er Sachen in den operativen Vorgängen nicht versteht. Der Mann von der „Bürgerwehr“ wacht zwar immer noch mit Argusaugen über das Geschehen, aber seit er wohl den Eindruck hat, dass Benedict sich strikt an die getroffenen Abmachungen hält, konzentriert er sich hauptsächlich auf die Tätigkeit der beiden Anderen.
Benedict versucht sich jedes Kommentars zu den ihm vorgelegten Akten zu enthalten, wenn er sich auch manchmal auf die Lippen beißen muss. Mit derartigem hatte er in seinem bisherigen Dienstalltag noch nie zu tun. Geheimdienste kennt auch er nur aus Filmen oder Romanen, und zu den westdeutschen Diensten ähnlicher Strickmuster hat er keinen Kontakt. Seine anfängliche Empörung, manches mal vermischt mit heftiger Belustigung über die bürokratisch formulierte Detailfreude in den von MfS-Raschke verfassten Berichten, ist mittlerweile einer gleichmütigen Arbeitsroutine gewichen. Hatte er zu Beginn seiner Tätigkeit noch mit Interesse die Inhalte und Ziele der operativen Vorgänge des Hauptmanns verfolgt, so notiert er jetzt nur noch die Namen der jeweils observierten Personen, um sie nach Dienstschluss an Ganser durchzugeben. Er ist nicht hier, um moralische Bewertungen abzugeben - er hat einen Fall zu klären. Manchmal, wenn er über die haarsträubende Rechtschreibung des Hauptmanns allzu laut lacht, treffen ihn empörte Blicke. Seine Vorstellung, das umfangreiche Material dadurch zu reduzieren, dass er nur die Namen rechtskräftig verurteilter Opfer in seine Liste aufnehmen wollte, hatte sich leider als undurchführbar erwiesen. Eine interne Namensabgleichung mit den entsprechenden Akten der DDR-Staatsanwaltschaft ist nicht möglich; diese Unterlagen befinden sich an anderen Orten. So wird die Liste der Namen, die Benedict auf seinem Block notieren muss, länger und länger. Da wird bei den Düsseldorfer Kollegen aber Freude aufkommen!
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„Kommst du übers Wochenende nach Düsseldorf?“, fragt Ganser, nachdem er den letzten Namen von Benedicts Liste notiert hat.
„Nein, ich werde mich hier mal ein bisschen Umsehen. Ist ja hochinteressant jetzt!“
Natürlich hat der Hauptkommissar erwogen, das Wochenende zu einer kurzen Heimfahrt zu nutzen. Die Aussicht auf ein „Marzahn-Weekend“ ist nicht besonders verlockend, aber angesichts der chaotischen Verkehrsverhältnisse auf der Transitautobahn Richtung Westen hat er den Gedanken an sein eigenes Bett doch schließlich verworfen.
„Na dann, viel Spaß in Sibirien!“, verabschiedet sich Ganser gewohnt locker und lässt Benedict mit sich und einem leeren Wochenende allein.
Sicherlich ist die Idee schon seit einiger Zeit da, aber am Samstagmorgen setzt er sie kurzentschlossen in die Tat um. Die Strecke kennt er schließlich. Auch wenn das damals immer eine Tagesreise war, aber heute ... die vergleichbare Tour zwischen Düsseldorf und Frankfurt machte er schließlich in anderthalb Stunden.
Dann dauert es doch länger, bis er den Friedhof an der Wolgaster Straße erreicht. Erst ist er falsch in Richtung Potsdam gefahren, und als er gegen Mittag auf die F 96 bei Oranienburg kam, war die Transitstrecke Richtung Ostsee dermaßen verstopft, dass er für die restlichen 170 Kilometer doch noch fast drei Stunden brauchte. Auch in der Stadt selbst hat er Probleme, sich zurechtzufinden. Kaum, dass er sie wiedererkennt. Unzählige Plattenbauten für die
Angestellten des nahegelegenen Kernkraftwerkes haben die einst so beschauliche Universitäts- und Hansestadt bis zur Unkenntlichkeit aufgebläht. Auch seine alte Schule, an der er mit unangenehmen Erinnerungen schnell vorbeifährt, scheint eine andere Nutzung gefunden zu haben, und der Platz der Einheit ist zu einem großen Verkehrsknotenpunkt umgebaut worden, dass er fast die richtige Abfahrt verpasst hätte.
Obwohl es mittlerweile über dreißig Jahre zurückliegt, findet er instinktiv den Weg zur Grabstelle, glaubt es wenigstens, denn als er dort anlangt, steht ein völlig anderer Name auf dem Grabstein. Er irrt noch eine Weile zwischen den umliegenden Grabreihen herum, aber vergebens. Sollte er sich so geirrt haben?
Schließlich beendet er die erfolglose Suche und wendet sich an die Friedhofsverwaltung, die in einer kleinen Baracke im Schatten der Friedhofsmauer untergebracht ist.
Die alte Frau blättert ratlos in alten Folianten, die sie aus einem wackligen Aktenschrank gekramt hat.
„Wann, sagen Sie, ist Ihre Mutter verstorben?“
„1958. Im November.“
Natürlich war das damals ein nebliger Novembertag gewesen. Und hier im Norden waren es immer besonders neblige Nebeltage. Klamm naß war die Kälte durch den dünnen Stoff seines ersten Anzugs gekrochen. Das Betriebs-Schalmeien-Orchester hatte „Unsterbliche Opfer“ gespielt und jemand von der SED-Kreisleitung eine Rede gehalten. Immerhin war sie ja eine aktive Genossin gewesen.
„Ja, also das Grab ist vor zwei Jahren ... eingeebnet worden. Die Zeit war ja abgelaufen ... und da sich sonst niemand um das Grab gekümmert hat...“
Benedict findet nicht, dass sie überhaupt eine Rechtfertigung nötig hat. Er hätte sich früher kümmern können.
Anschließend fährt er dann doch noch raus an den Bodden. Die kleine, hölzerne Zugbrücke erscheint ihm zu schwach für den schweren Wagen, so geht er zu Fuß über den Fluss. Fast sieht alles noch aus wie damals, als ein Privatzimmer in einem der kleinen Fischerkaten genauso zur „Bückware“ zählte wie manche Bücher oder eben ... Bananen. Teure Alternative zu den FDGB-Heimen in Oberwiesenthal oder Heringsdorf. Warme Windstille liegt über dem Hafen. Vor dem Restaurant am Fuß des Leuchtturms haben neue Pächter große Sonnenschirme mit Werbeaufdrucken aufgestellt. Überall in der DDR verschandeln diese Dinger jetzt die Landschaft. Man hätte den Leutchen hier vielleicht besser sagen sollen, dass der westliche Kapitalismus seine Feldzüge weniger mit NIKE-Raketen, als mit Feldbatterien von Werbeschirmen plant. Auch ein Wagen mit Pommes und Bratwurst hat sich schon eingefunden. Benedict bestellt sich eine Portion Pommes mit Ketchup, aber den „gibt’s bei uns erst nach der Währungsunion!“. Nein, der Zauber vergangener Tage ist unwiderruflich verloren. Er hätte nicht hierher fahren dürfen.
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„Schönes Wochenende gehabt? Sehen ja aus, als wären Sie an der See gewesen!“
Benedict runzelt verblüfft die Stirn, geht dann aber doch nicht weiter auf Engels’ Bemerkung ein. Auf seinem Schreibtisch liegt das Neue Deutschland von heute.
„Nu, ham wir die Jugos richtig abgezogen, oder?“ Er hatte den Wagen ja sowieso wieder ins Präsidium bringen müssen, und da wollte er sich