„Von uns aus ist das ja ausreichend, aber wir haben das nicht alleine zu bestimmen. Es kommt gleich jemand..."
Der junge Bärtige, der sie wenig später misstrauisch mustert, scheint überhaupt nicht hierher zu passen. Das kränklich weiße Gesicht über dem angeschmudelten T-Shirt zeugt von wenig Schlaf und ungesunder Ernährung. Meißner reagiert auf den Burschen mit versteifter Körperhaltung.
„Nu, was ist los?“, fragt er. „Wir haben eine ordentliche Zutrittsberechtigung des Ministeriums des Inneren der DDR, das langt doch wohl, oder?!“
Der harsche Ton des Kriminalisten macht keinen Eindruck auf den jungen Mann. Mit einem schiefen Blick auf das offizielle Schreiben zuckt er die Achseln.
„Und wer sind denn Sie?“
Meißner zeigt ihm wortlos einen Dienstausweis.
„Die Genehmigung gilt sowieso nur für einen Vitus H. Benedict. Aus ... Düsseldorf?“ Mit gerunzelter Stirn betrachtet er den Mann aus dem Westen. „Sind Sie das?“
„Ja. Hauptkommissar Benedict von der Kripo Düsseldorf. Ich ermittle hier in einer Mordsache.“
„Kommen Sie doch beide mal mit in die Gotlindestraße!“
Als sie wieder auf der Ruschestraße den schnellen Schritten des Bärtigen folgen, fragt Benedict den MUK-Leiter: „Wo gehn wir hin, wer ist das?“
„Bürgerkomitee“, nuschelt Meißner leise und, wie es scheint, missmutig.
Die jungen Leute in der Gotlindestraße trauen dem offiziellen Schreiben aus dem Hause Diestel offenbar wenig, und während die beiden Polizisten in einem Vorraum warten, dringen Bruchstücke einer heftigen Diskussion, ab und zu unterbrochen von Telefonaten, an ihre Ohren. Nach fast einer Stunde nervenden Wartens wird Benedict endlich rein gerufen.
„Wir haben so was nicht gerne!“
Er hat die junge Frau mit den skeptischen Augen bestimmt schon mal gesehen. In einem der unzähligen Femsehberichte über die Verhandlungen des Runden Tisches. Jetzt sitzt sie ihm gegenüber, das bekritzelte Schreiben des MdI vor sich, und schüttelt den Kopf.
„Bitte, das geht nicht gegen Sie. Aber es kommen so viele Leute mit offiziellen Schreiben von allen möglichen Stellen ... da ist schon so viel beiseite geschafft worden ... warum müssen Sie denn in die Zentral-Kartei?“
Na, die sind ja gut. Er wusste bis heute morgen ja selbst nicht, dass er in die Normannenstraße musste. Was soll er da erklären?
„Ich bin auf der Suche nach den Hintergründen eines Mordes an einem DDR-Bürger in Düsseldorf. Man hat mir von der Ost-Kripo gerade erst heute morgen mitgeteilt, dass der Tote vermutlich ein Mitarbeiter, ein hoher Mitarbeiter des MfS gewesen ist. Und dieses ist wohl der einzige Ort, an dem ich mehr über ihn erfahren kann ... und über mögliche Motive für den Mord an ihm.“
Unschlüssig schiebt sie das Schreiben auf dem Schreibtisch hin und her. „Ich habe das nicht so gerne, wenn jetzt auch schon BRD-Polizei hier mitmischt. Also, ich muss das erst noch woanders abklären. Wo kann ich Sie telefonisch erreichen?“
„Im Präsidium der VP an der Beimlerstraße. Die Telefonnummer lassen Sie sich am besten vom Kollegen Meißner geben!“
„Ach ja ... Sie nennen sich jetzt Kollegen.“
*
Als sie am Fuße der Sicherheits-Monolithen in der Ruschestraße wieder in den Wartburg steigen, bricht Meißner bissig sein mürrisches Schweigen. „Ein Affenzirkus ist das hier mittlerweile! Kein Mensch weiß, wer was zu sagen hat! MdI, Regierungskommission, AfNS, Staatsarchiv und die Bürgerkomitees, jeder misstraut jedem. Das ist doch kein ordentliches Arbeiten!“
Der misshandelte Wartburg verweigert störrisch den nächsthöheren Gang und bleibt ruckelnd auf der Straße stehen. Ein Hupkonzert setzt ein.
In der Kantine des Präsidiums bekommt Benedict dann Gesellschaft von Oberleutnant Engel, der ihm bei Hackbraten mit Sättigungsbeilage an einem der Vierertische Gesellschaft leistet.
„Nich’ so gut gelaufen, was?“
Muss ihn der Meißner wohl auf seinem Weg nach oben getroffen haben. Jedenfalls scheint der Engel schon informiert zu sein.
„Machen Sie sich eben einen freien Nachmittag“, meint er kauend, „im Centrum-Warenhaus am Alex werden die restlichen Warenbestände der DDR-Produktion unters Volk gebracht, oder ... fahren Sie doch mal wieder S-Bahn!“
Fast hätte sich Benedict die gehäufte Alu-Gabel ins Kinn gestochen. Wie kommt der Engel denn darauf?
Nachdenklich kaut er auf dem Fleischgemisch herum, bevor er mit seiner Frage kontert: „Was haben Sie denn mit dem Meißner heute früh gehabt? .Kriegsgewinnler1?'. Hat ihm gar nicht gefallen!“
Über Engels freundliches Gesicht zieht ein kleiner Schatten. Fein säuberlich kratzt er die letzten Soßenkartoffelreste von seinem Teller. Nach einer langen Weile, der Teller ist jetzt spiegelblank, murmelt er dann reichlich undeutlich: „Ach... das... fragen Sie ihn doch am besten selbst!“
*
Während Benedict sich an Geld umtauschen und Hütchenspielern vorbei drückt, die runde Weltzeituhr passiert und sich kaum der angebotenen Reklame-Zigarettenpackungen erwehren kann, ist er in Gedanken bei dem Fuchs-Dossier, das er an seinem Schreibtisch in der MUK doch noch überflogen hat. Viel war es nicht, und das Wenige auch noch voller Rätsel. Also, Fuchs war nicht der richtige Name des Toten, aber wie er wirklich heißt, geht aus den drei Seiten auch nicht hervor. Auch nicht, woher diese Information stammte. Von „Quellen“ war da die Rede gewesen. Was für „Quellen“? Und der abschließende Hinweis auf Dienststellen mit den Kürzeln HVA und HA II? Schon eine merkwürdige Angelegenheit. Nichts ist so, wie er es erwartet hatte. Und dann diese gleichlautenden Antworten der beiden so unterschiedlichen VP-Kriminalisten. „Das fragen Sie ihn doch besser selbst!“
Im Kaufhaus Centrum sieht das Warenangebot dünn aus. Die Leute schieben sich an den fast leeren Regalen und Theken vorbei und sind aggressiv. „Ham wa jerne“, murmelt eine Ost-Berlinerin im Vorbeigehen „aus’m Westen und uns noch die Sachen wegkoofen!“ Benedict fühlt sich angegriffen und verzichtet darauf, den vorletzten Becher Joghurt aus der Kühltruhe zu nehmen.
Wieder im Freien kauft er gegen DM eine Dose löslichen Kaffees von einem der fliegenden Händler. Als er dann an der Ecke Karl-Liebknecht-Straße auf einen Schallplattenladen stößt, kommt ihm spontan eine Idee, und er betritt das ziemlich leer aussehende Geschäft.
„Ich hätte da mal eine Frage“, wendet er sich unschlüssig an eine gelangweilte Verkäuferin, „haben Sie zufälligerweise eine Platte von Dean Sanger?“
„Dean Sanger?“, sieht ihn die Blonde an, als käme er von einem anderen Stern. „Der ist doch schon lange ... na, ich seh doch mal nach!“
Während sie hinten mit einer anderen Verkäuferin rum tuschelt, kommt sich Benedict schon ein bisschen komisch vor. Blöde Idee von ihm. Was will er bloß damit?
„Nein. Ham wa nich’ im Laden. Aba wenn Se woll’n, vielleicht auf Lager?“
„Nein, nein. Machen