Einem Amerikaner ist seine Brieftasche mit Tickets und Kreditkarten abhanden gekommen, ein ziemlich angetrunkener Deutscher hat aus Wut über einen verpassten Anschlussflug einer Lufthansa-Angestellten eine Ohrfeige gegeben, vom Parkdeck 2 a ist ein Mercedes verschwunden, und zwei kleine Kinder schreien nach ihren Eltern oder irgendjemandem, der sie abholen soll. Ganz normaler Dienstbetrieb.
Schlag zwölf normalisiert sich die Sicht wieder, und die bunten Metallvögel fallen aufgeregt vom Himmel herunter. Das Programm im Airport-TV bekommt endlich Farbe.
Am Ankunftsgate im B-Finger drängeln sich die Abholer. Das Café ist völlig überfüllt. Die Angestellten der Fluggesellschaft bereiten sich hinter dem Schalter schon wieder auf den Rückflug der Maschine nach London vor. In dem Gewühle wartender und ankommender Menschen entdeckt Benedict dann doch noch den schmalen Captain von der S.I.B. und drängelt sich zu ihm durch.
»Hello, good morning, Jerry!«
»Hallo, hallo, Herr Kommissar! Ein wenig spät, ja?«
Der Deutsche winkt unangenehm berührt ab. »Kennst du denn die zwei, Jerry?«
Der englische Captain lächelt mit feiner Arroganz. Aber nicht nur das. Er zaubert einen Ausdruck auf sein Gesicht, wie ihn nur jahrhundertelange Kolonialherrentradition in Zusammenspiel mit Public-School-Erziehung, Oxbridge-Studium und Sandhurst-Militärakademie hervorbringen. Selbstsicher, überheblich, herablassend.
Vitus H. Benedict weiß, dass er bei einem Deutschen mit diesem Gesichtsausdruck schon aus der Haut gefahren wäre. Aber diesem aristokratischen Ausdruck angeborener Macht hat er nichts entgegenzusetzen.
»Sollten unsere deutschen Freunde noch nicht über die Segnungen moderner Technik verfügen? Zum Beispiel Bildübertragung? Ihr seid doch sonst immer so effizient!« Während der S.I.B.-Mann seinen Spott offen herauslässt, zieht er zwei Telefotos aus seiner Tweedjacke hervor und reicht sie dem Hauptkommissar. »Außerdem kenne ich den Belfast-Mann sehr gut. Wir haben mal was zusammen gemacht!«
Weder bleibt Zeit, sich über Harts ironische Art zu ärgern, noch dazu nachzufragen, was Captain Hart mit dem Belfaster Polizisten >zusammen gemacht< haben könnte. Zielsicher steuert der Engländer schon auf zwei Männer zu, die gerade die Pass- und Zollkontrolle hinter sich gebracht haben und suchend in die Menschenmenge vor dem Ausgang starren. Auf dem Gesicht des Größeren der beiden Ankömmlinge macht sich jetzt ein Ausdruck des Erkennens breit. »Hi, Jerry! Long time no see! This is O'Connell from Dublin!«
Das gegenseitige Vorstellungsritual haben sie schnell hinter sich gebracht, und während Captain Hart die zwei Männer von der irischen Insel hinunter in die Gepäckabholung bringt, beordert Benedict den Fahrer mit dem Wagen von der Flughafenwache hinunter in die Ankunftsebene.
Auf der Fahrt ins Präsidium dann die üblichen Gespräche: Wie war der Flug? Sorry wegen der Verspätung. Ja, ja dieser Nebel. Das Wetter überhaupt und so. Waren Sie schon mal in Düsseldorf?
Benedict erfährt, dass gestern schon ein Briefing für die beiden Iren in New Scotland Yard in London stattgefunden hat, über das sie später berichten wollen.
Die beiden Iren stellen ihre Koffer in Benedicts Dienstzimmer ab. Dann gehen sie zusammen nach oben. Der Raum mit der großen Weltzeituhr ist noch verqualmter als sonst. An dem langen Konferenztisch sitzen der Polizeipräsident und der >Leitende<. Mit den vier Neuankömmlingen wird es da jetzt richtig voll. Der Präsident macht es kurz. »Sie werden dringend in der Haroldstraße erwartet! Wir sehen uns hier dann ja sowieso noch öfter! Glück auf, erst mal!«
Zwanzig Minuten später sitzt die ISAT-Truppe dann schon im Innenministerium, wo es Überraschungen gibt. Neben mehreren Tabletts mit belegten Sandwiches sitzt auch Mr. Smith vom britischen Intelligence Corps in dem großen Konferenzsaal. Diesmal bleibt er zwar nicht geheimnisvoll im Schatten, aber Benedict stellt fest, dass dessen Durchschnittsgesicht keiner zusätzlichen Tarnung bedarf. Ein Staatssekretär vom Bonner Innenministerium verteilt dünne, grüne Mappen an die Neuankömmlinge. Der Vertreter der Generalbundesanwaltschaft bewegt sich agil auf seinem Sitz hin und her, während Neuner vom BKA in Wiesbaden Benedict zuzwinkert. Die beiden kennen sich schon länger. Der Innenminister des Landes Nordrhein-Westfalen ist einfach nur anwesend. Aber das will auch schon was heißen.
Als die vier den Raum betraten, nahm Benedict sofort diese Atmosphäre von gereizter Nervosität wahr. Die Herren haben ja schließlich alle enge und umfangreiche Terminpläne. Aber jetzt legt der Herr Innenminister doch joviale Freundlichkeit in seine Stimme. Es sind ja ausländische Gäste anwesend, auf deren Arbeitshilfe man angewiesen ist. Um zwanzig vor drei haben sie auch das hinter sich. Benedict bringt O’Connell und McGrath in das Hotel Kastens.
»Wir treffen uns dann um 15 Uhr 30 im Gebäude Nr. 58 im ersten Stock. Da ist unsere Operationszentrale eingerichtet. Bis dann!« Captain Hart wird von Benedict gleich mit hinüber in das neu ausgestattete Zimmer im >Weißen Haus< genommen. Der Engländer pfeift anerkennend durch die Zähne. »Wusste gar nicht, dass ihr hier auch drinsitzt. Ist das neu?«
»Ja, unsere Ordnungsmacht platzt aus allen Nähten, und da mieten wir uns zusätzliche Quartiere in Düsseldorf an.«
Eines der Telefone klingelt. Premiere. Von den neugierigen Blicken des Captains gefolgt, gelingt es Benedict auf Anhieb, den entsprechenden Apparat zu erwischen. »Ja?« Eine Frauenstimme aus der Telefonzentrale. »Kriminalhauptmeister Ganser hat sich gemeldet. Er ist auf dem Weg von Hamburg heute Nacht wegen eines Verkehrsunfalls mit einem Laster auf der A3 steckengeblieben. Ich soll Ihnen ausrichten, dass er voraussichtlich gegen 17 Uhr im Präsidium eintreffen wird!«
»Weiß der Leiter K Bescheid?«
»Ja, mit dem hat Herr Ganser selbst vorhin gesprochen!«
Kopfschüttelnd legt der Hauptkommissar den Hörer wieder auf die Gabel. Hamburg? Was, zum Teufel, macht der Ganser in Hamburg?
Die beiden Iren erscheinen schon früher als verabredet im ISAT-Büro.
Sichtlich erfreut richten sie sich an ihren Schreibtischen ein und packen alle möglichen Unterlagen aus zwei bauchigen, abgewetzten Ledertaschen in die Schubladen.
In ihrer unermesslichen Güte hat die Verwaltung auch einen kleinen Kühlschrank herangeschafft, und die ausländischen Polizisten greifen gerne nach den kühlen Cola-Dosen.
»Ja, also den offiziellen Teil hätten wir damit wohl hinter uns. Ich freue mich auf die Zusammenarbeit mit Ihnen!«
Die drei an ihren neuen Schreibtischen sitzenden Polizisten nicken zustimmend mit den Köpfen. Auch ihnen schien die Wichtigtuerei auf der höheren Ebene auf die Nerven gegangen zu sein.
»Wie Sie schon wissen, ich bin Hauptkommissar Benedict vom 1. Kommissariat bei der Kripo Düsseldorf. Zuständig für Tötungsdelikte, Todesermittlungen und Brandsachen. Und damit das nicht so formell hier abläuft ... immerhin werden wir hier sehr eng Zusammenarbeiten ... also, ich schlage vor, dass wir uns der Einfachheit halber duzen, weil ... das ist im Deutschen sowieso immer ziemlich blöde mit diesem Sie und Du ... also, vielleicht reden wir uns besser mit den Vornamen an ...«, jetzt gerät Benedict vollends ins Stocken, »bei mir hört sich das etwas ... ungewöhnlich an, weil ... also, ich höre auf >Benny< ganz gut!«
»Okay, okay.« Der lang aufgeschossene Belfast-Mann entblößt gelbliche Pferdezähne inmitten heller Sommersprossen: »Ich bin Rory!«
»Patrick«, schmunzelt der rotbäckige Dubliner. Dann fügt er nochmals hinzu: »Patrick O’Connell aus Dublin!«
»Jerry Hart!«, näselt der Engländer freundlich herablassend hinter seinem Schreibtisch.
»Dann ist das also klar, Jerry, Patrick, Rory! Und wie ist das mit der Sprache? Ich weiß aus längerer Zusammenarbeit von Jerry, dass er schon ein halber Deutscher ist, aber wie ist das mit Ih ... euch? Wäre es besser, Englisch zu reden?«
Der lange Nordire und der korpulent wirkende Dubliner schütteln entschieden ihre Köpfe. »Nein, nein. Deutsch ist in Ordnung.