„Herr Wolf, ich wollte Ihnen heute Abend nur eines sagen: Gestern haben Sie große Worte gemacht, dass Sie niemanden brauchen, der Ihr angeknackstes Gemüt auffrischt. Sie meinten sogar, ich hätte das nötig. Irrtum. Sie brauchen ein bisschen Gemütswäsche. Und nun sehen Sie mich nicht mehr so böse an. Setzen Sie sich hin, legen Sie von mir aus die Füße auf den Schreibtisch und reden Sie, als brauchten Sie vor mir kein Blatt vor den Mund zu nehmen.“
„Sehr gütig“, brummte er, zog sich den Kittel aus, warf ihn auf die Couch und sah, dass zwei Tassen auf der Schreibtischecke standen. Erst wollte er dazu etwas sagen, unterließ es aber und schenkte beide Tassen ein.
Sie stellte sich neben ihn, nahm die Zuckerdose und fragte lächelnd:
„Wie viele Löffel Zucker?“
„Keinen.“
„Und Milch?“
„Keine.“
Sie lachte leise.
„Meine Güte, können Sie nicht etwas netter sein?“
„Nein!“, knurrte er.
Er setzte sich hinter dem Schreibtisch in seinen Drehstuhl und stützte den Kopf auf die Hände. Nachdenklich musterte er Ellen Schendt.
Sie merkte es, sagte aber nichts und ließ sich ihm gegenüber auf der anderen Schreibtischseite nieder. Die Tischlampe warf einen goldenen Schein auf ihr strenges Gesicht, ihren schlanken Hals und den Ausschnitt ihres weinroten Kleides.
Er konnte sie nicht übersehen, und er konnte auch nicht einfach abtun, dass sie eine anziehende Frau war. Obgleich sie mit Inge wenig gemein hatte.
Dr. Wolf roch ihr Parfüm. Sehr dezent, der Geruch, doch kräftig genug, ihn zu bemerken. Gestern, bei der Operation, da hatte sie bestimmt nicht danach geduftet.
Er begann zu ahnen, dass sie heute Abend mit einer festen Absicht zu ihm gekommen war. Und er war doch Menschenkenner genug, um ihr anzusehen, was sie bewegte. Ja. Schwester Gerda hatte recht: Ellen Schendt liebte ihn.
Doch plötzlich fiel in ihm manches zusammen, was zwischen ihm und Inge gestanden hatte. Jetzt geschah es, als er Ellen Schendt gegenüber saß. Und es wurde noch viel stärker, als sie auf stand, um den Schreibtisch herumkam, sich gegen seine Schulter lehnte und sein Haar streichelte.
Er spürte ihre Zuneigung körperlich. Die Berührung ihrer Hand an seinem Kopf wirkte wie elektrisierend. Und doch festigte sich in ihm immer mehr das Bild der Inge, die er liebte, die er immer lieben wollte.
Unvermittelt stand er auf, sah Ellen Schendt an und nahm ihren Arm von seiner Schulter. „Fräulein Schendt, Sie sind ein liebes Mädchen, aber ich bin nicht so, wie Sie es sich denken. Wollen wir nicht besser gute Kollegen bleiben?“
Ihre Augen wurden schmal. In ihr Gesicht trat eine Härte, die er an ihr noch nicht bemerkt hatte. Leise erwiderte sie:
„Sie machen einen Fehler, einen nicht wieder gutzumachenden Fehler. Ich gebe ehrlich zu, dass ich Sie liebe. Vom ersten Augenblick an, da ich Sie sah. Und ich weiß genau, dass sich eines Tages erfüllt, was ich möchte. Ich habe keine Angst. Ich kann darauf warten.“
Sie drehte sich um und ging rasch hinaus.
Er sah ihr ratlos nach, wischte sich übers Haars, das noch von ihrer Hand zerzaust war, und seufzte tief.
Dann gab er sich einen Ruck, zog sich den weißen Kittel wieder an und verließ sein Büro.
*
AUF DEM GANG WAR ES still. Keine Menschenseele weit und breit.
Die Gummisohlen an seinen Schuhen glitten lautlos über die Fliesen. Dann hatte er Zimmer neun der Privatstation erreicht. Er öffnete leise und sah, dass nur die kleine blaue Notlampe über der Tür brannte. Dennoch konnte er Inge sehen. Sie schlief.
Ihr Gesicht wirkte in der diffusen Beleuchtung bleich, fast violett. Die verbundenen Arme lagen auf der Decke, und ihr aufgelöstes blondes Haar wirkte bei der bläulichen Beleuchtung wie die Lockenpracht einer Nymphe.
Er schloss hinter sich leise die Tür, ging bis ans untere Bettende und sah sie lange an. Ihre Atemzüge wurden etwas unruhig, als ahne sie, dass sie beobachtet würde.
Wie lange er dort stand, hätte er selbst nicht sagen können. Aber der Wunsch, Inge in die Arme zu nehmen, sie zu küssen, wurde in ihm so stark, dass er dann neben das Bett trat, sich über sie beugte und sie sanft auf die Stirn küsste.
Sie murmelte etwas im Schlaf, begann die Hände zu bewegen und drehte den Kopf zur Seite.
Er dachte an die Stunden, die er mit ihr gemeinsam verbracht hatte, damals vor dem Unglück. Schöne Stunden, und doch war Inge eigentlich nicht einmal völlig aus ihrer Reserve gegangen. Er meinte zu verstehen, warum das so war.
Er beobachtete ihr Gesicht, sah, wie beim Atmen ihre Nasenflügel bebten, und dann öffnete sie plötzlich die Lider. Sie sah ihn aber nicht an, sondern blickte zur Wand.
„Wer ist da?“, fragte sie leise, und ein bisschen Furcht klang in ihrer Stimme mit.
„Ich, Gert“, sagte er ruhig.
Sie wandte ihm das Gesicht zu, sah ihn aber wohl nicht deutlich, da er das Notlicht hinter sich hatte.
„Gert? Warum kommst du noch zu mir? Ich wollte, du würdest begreifen, dass wir nicht zusammengehören.“
„Warum nicht?“
Sie sah wieder zur Seite.
„Nein. Wir gehören nicht zusammen. Du würdest es mir nie verzeihen, was ich getan habe. Vielleicht ist alles, was du jetzt denkst und tust, nichts als Mitleid.“
„Nein, es ist kein Mitleid.“
„Das sagst du so. Man muss sich auch eingestehen können, wenn man einen Fehler gemacht hat. Ich habe das getan. Gestern Nachmittag ... oder war es heute Nachmittag? ... da habe ich über alles nachgedacht. Über uns beide. Ich habe dich immer geliebt, Gert, ich tue es noch heute. Immer. Du bist so ritterlich, so hilfsbereit, aber ich habe dich so oft betrogen. Mit meinen Gedanken betrogen, Gert. Ich habe oft an ihn gedacht. Du weißt, wen ich meine. Er war schlecht. Er war es wirklich. Aber ...“
Sie schloss müde die Augen.
„Es strengt dich an, und du solltest nicht mehr daran denken. Wenn du wieder gesund wirst, Inge, wird alles gut. Wir sind keine kleinen Kinder mehr. Jeder Mensch hat eine Vergangenheit. So oder so. Es gibt nichts zu verzeihen oder zu bereinigen. Es gibt nur einen neuen Anfang, aber der muss gut sein.“
Sie sah zu ihm auf.
„Gert, du bist gut. Zu gut für mich. Ich habe auch mit meiner Mutter gesprochen ... über alles.“
Er sah, dass es sie sehr anstrengte.
„Schlaf jetzt, morgen werden wir über alles reden.“
„Schwester Gerda sagt, dass du morgen nicht da bist“, flüsterte sie.
„Ich werde morgen da sein. Den ganzen Tag, Inge. Und ich habe auch für dich Zeit.“
„Und ... und Fräulein Dr. Schendt?“
Sie versuchte zu lächeln, aber es gelang ihr nicht.
„Hast du da auch etwas von Schwester Gerda gehört?“
„Nein ... das Fräulein Doktor war bei mir am Nachmittag.“
„Was?“
„Sie hat sich mit mir unterhalten. Sie ist sehr nett.“