„Nein, danke. Ich würde gerne erfahren, was mit Inge ist.“
Sie setzte sich, seufzte tief und sah ihn lange an, ehe sie begann:
„Es war eine furchtbare Zeit, und ich habe es erst vor vierzehn Tagen erfahren, was los ist. Natürlich habe ich etwas gemerkt, aber gewusst habe ich nichts. Dieser Strolch, mit dem sie schon studiert hat, der sie später erpressen wollte, der ist doch mit ein paar Wochen davongekommen. Kaum war er aus dem Kittchen, hat er sich wieder an Inge ’rangemacht. Nicht, um sie ... na, du weißt schon. Nein, sie sollte ihm zahlen. Sie hatte natürlich nichts. Denn seit Ritter mit in der Firma ist, kann sie nicht so einfach Geld aus der Kasse nehmen. Da hat sie dann dem Kerl billige Brennstoffe besorgt, die er teuer weiterverkaufte. Es war anfangs gar nicht so schlimm ...“
„Aber warum hat sie es mir denn nicht gesagt oder der Polizei?“
„Er hat sie nicht mehr erpresst. Der war nur immerzu da, fuhr ihr nach, wenn sie unterwegs war, sprach sie überall an. Aber so, dass sich die Leute umdrehten. – Gert, ich sage dir, es muss höllisch gewesen sein. Und dann dieser Freund, dieser Schurke. Ja, und eines Tages verlangte er von Inge, sie sollte ihm genau erklären, wie er an unseren Geldschrank herankäme. Sie könnte ja vorher alles versichern, hoch versichern. Inge verständigte die Polizei. Dann hatte aber die Polizei den verrückten Einfall, die Sache laufen zu lassen. Sie wollten die beiden Kerle auf frischer Tat schnappen.“
„Aber das ist doch Irrsinn. Ich meine von den beiden. Die können sich doch denken, dass ihr mit dem Vorschlag bereits gewarnt seid und kein Geld im Hause haltet.“
„Ich weiß nicht, ob sie das dachten. Denn Inge würde ja, so hofften sie wohl, zu Hause nichts sagen oder aber: Die beiden Kerle blufften nur. Denn sie kamen nicht, und die Polizei wartete umsonst. Doch dann überfielen beide einen Rentner, der gerade seine Rente auf der Post geholt hatte. Die Polizei war sofort da, verfolgte die beiden, die einen Wagen gestohlen hatten. Und da ist es dann zu einem Gefecht gekommen. Der eine Lump ist dabei erschossen worden. Diesen Hans haben sie jetzt in Haft, und ein Polizist wurde schwer verletzt. Stellt heute alles in der Zeitung.“
„Der Polizist hatte einen Bauchschuss, ist es das?“
„Ja, woher weißt du es? Ist er bei euch?“
„Allerdings. Und wo ist Inge?“,
„Sie liegt schon den ganzen Tag im Bett. Ich weiß nicht mehr aus noch ein, und unser Hausarzt kann auch nicht sagen, was es ist. Vielleicht wird es besser, wo doch dieser Kerl nun endlich wieder hinter Gittern sitzt. Hoffentlich lassen sie ihn nicht mehr 'raus, ehe er nicht steinalt ist.“
„Ich möchte Inge sprechen.“
„Ich will mal sehen. Warte, Gert, ich gehe zuerst mal allein zu ihr.“
Sie erhob sich und ging nach oben. Plötzlich gellte ein schriller Schrei durch das Haus. Dr. Wolf sprang auf, rannte in die Halle, stürmte die Treppen hinauf und sah Frau Peschke mit entsetztem Gesicht und hilflos herabhängenden Armen in der Tür eines Zimmers stehen.
Er lief hin, sah an ihr vorbei Und entdeckte Inge am Boden liegend. Sie hatte sich die Pulsadern aufgeschnitten.
Mit einem Blick sah Dr. Wolf, dass sie es zum Glück nicht richtig getan hatte. Es konnte auch noch nicht allzu lange her sein.
„Rufen Sie den Notarztwagen an! Ich kümmere mich darum. Gehen Sie!“, rief er Frau Peschke zu.
Inge lag noch bei Bewusstsein da, wenn auch die Schwäche schon weit vorgeschritten war. Sie versuchte zu lächeln.
„Es ist... vorbei“, lispelte sie.
„Aber nein!“
Er begann, ihr die Arterien an den Oberarmen abzubinden. „Warum, Inge, warum hast du’s getan?“, fragte er rau.
„Ich ... bekomme ... ein ... Kind ... Gert.“
„Ein Kind? Ein Kind von wem?“,
Sie schloss die Augen. Die Schwäche nahm mehr zu.
„Von ... Hans“, flüsterte sie kaum hörbar.
Er war wie gelähmt. Ein Kind von diesem Lumpen. Was mochte nur mit Inge vorgegangen sein? Wie konnte das nur passieren?
Ich bin selbst mitschuldig. Ich hätte mich um sie kümmern müssen, auch wenn sie nicht darum gebeten hat. Es wäre meine Pflicht gewesen. Habe ich nicht behauptet, sie zu lieben? Heuchelei! Wäre es so, hätte mich nichts hindern können, sie weiter zu besuchen, mit ihr wegzugehen. Statt dessen habe ich mich in der Arbeit vergraben, habe die beleidigte Leberwurst gespielt, der Inges Benehmen nicht zugemutet werden kann.
Natürlich ist sie diesem Hans hörig. War es schon immer. Mit seinem Auftauchen hatte sich alles verändert. Sie wollte ihn vielleicht gar nicht. Sie wollte ihn wahrscheinlich loswerden, aber sie konnte nicht. Und ich hätte ihr helfen müssen. Ja, helfen, statt den Missverstandenen zu spielen. Den ach so lebensklugen Herrn Doktor, der sich zum Richter aufgeschwungen hat, als die Sache mit dem Autounfall passierte. Und dann, als ihr Vater gestorben war, vielleicht in Inges Leben ein viel größerer Halt, als ich angenommen habe. Da war es Zeit, Inge noch fester in die Arme zu nehmen. Aber was habe ich getan? Weil sie nicht gleich nach mir verlangte, habe ich es für unter meiner Würde gehalten, unaufgefordert zu ihr zu gehen. Nein, mein lieber Gert Wolf, du bist selbst mitschuldig. Ja! Und das hier ist das Resultat. Sie bekommt ein Kind von diesem Halunken, und ich hätte mit etwas mehr Vertrauen, mehr Liebe, das Mädchen aus den Fängen dieses Burschen lösen können.
Er sah sie an.
„Inge“, sagte er leise. „Inge, ich bin selbst schuld daran, ich.“
Sie öffnete die Augen, lächelte matt und flüsterte:
„Nein, nicht du, Gert. Verzeih mir ...“
„Inge, du wirst nicht sterben. Und wenn du wieder gesund bist, wird alles besser. Alles, Inge!
Sie lächelte und wurde ohnmächtig, doch ihr Puls ging zwar matt, aber regelmäßig. Die Herztöne gaben Dr. Wolf Hoffnung.
Frau Peschke kam atemlos die Treppe herauf. Sie schwitzte, keuchte und rief japsend: „Der Wagen kommt. Mein Gott, Gert, was ist mit ihr?“
„Keine Sorge, Mutter Peschke. Sie hat viel Blut verloren, aber nicht zu viel. Da wird alles wieder gut.“
„Warum nur hat sie es getan, warum?“, rief die Frau fassungslos.
„Wenn sie wieder kräftiger ist, wird sie es dir sicher sagen.“
Draußen näherte sich Sirenengeheul. Der Notarztwagen kam.
*
INGE WAR NICHT IN LEBENSGEFAHR, nicht in der Stadt, wo man ihr mit neuem Blute helfen konnte. Ihre Verletzungen wurden genäht, Blut zugeführt, dann fuhr man sie ins Krankenhaus.
Dr. Wolf sprach mit seinem Kollegen von der gynäkologischen Abteilung, einem tüchtigen Frauenarzt. Der versprach, Inge zu untersuchen und festzustellen, ob Inges Behauptung zutraf.
Indessen lag Inge auf Dr. Wolfs Veranlassung in einem Zimmer der ersten Klasse. Sie war dort allein. Aber nur, wenn Dr. Wolf nicht bei ihr war, und er war oft bei ihr.
Die Blutinfusion hatte Inge gestärkt. Eine Traubenzuckerspritze tat das übrige. Es ging ihr viel, viel besser.
Gegen Abend hatte Dr. Wolf Zeit, einmal länger bei Inge zu bleiben. Er setzte sich zu ihr an den Bettrand und sah sie lächelnd an.
„Du kleines Dummerle! Wie konntest du das tun?“
„Ich wollte nicht mehr“, erwiderte sie. „Ich habe mich geschämt.“
„Vor mir?“
Sie nickte kaum merklich.
Er