Ich arbeitete mich Raum für Raum vorwärts, trat unter einem Türsturz hindurch in ein weiteres, kahles Ex-Büro und dann...
Schon in der ersten Sekunde hatte mein Instinkt mich gewarnt.
Ich wirbelte herum und blickte auf eine Gestalt, die eine Strickmaske trug, die lediglich die Augen freiließ.
Und dann war da der kurze Lauf einer MPi, der direkt in meine Richtung zeigte.
Dann ging alles blitzschnell. Der Finger meines Gegenübers krümmte sich.
Der Druck auf den Abzug verstärkte sich und ich wusste, dass im nächsten Sekundenbruchteil die Hölle über mich hereinbrechen würde.
Ein Augenblick wie eine Ewigkeit...
Ich riss meine Waffe herum, aber zuvor hatte der Killer bereits die MPi abgedrückt.
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Ich erwartete das rot aus dem Lauf herauszüngelnde Mündungsfeuer der MPi...
Ich ließ mich seitwärts fallen und rollte mich auf dem Boden ab. Die Waffe meines Gegenübers machte klick. Kein Schuss löste sich. Entweder hatte das Ding eine Ladehemmung, was immer mal wieder vorkommen konnte, oder das Magazin war leer. Der Kerl stand wie erstarrt da und blickte nun in den Lauf meiner Waffe.
"Fallenlassen!", rief ich.
Er bestätigte den Eindruck, den ich von ihm hatte. Er war Profi, kein lebensmüder Wahnsinniger, dem das eigene Schicksal gleichgültig war. Und darum wusste er auch ganz genau, dass das Spiel jetzt erst einmal für ihn zu Ende war.
Er hatte verloren.
Und so ließ er die Maschinenpistole zu Boden gleiten.
"Ich bin Special Agent Jesse Trevellian vom FBI District New York", sagte ich und erhob mich. "Sie sind verhaftet. Sie haben das Recht zu schweigen. Falls Sie auf dieses Recht verzichten, kann alles, was Sie von nun an sagen..."
Wie automatisch betete ich diese Litanei herunter, trat auf den Kerl zu und kickte dann seine Waffe ein Stück über den Fußboden.
"Drehen Sie sich zur Wand!", forderte ich. "Die Hände nach oben und die Beine auseinander..."
Er gehorchte.
Wortlos.
Er stand da und rührte sich nicht.
Ich bemerkte die Anspannung seiner Muskeln. In dem Moment, in dem mein Instinkt mich warnte, war es bereits zu spät.
Der Karatetritt kam dann so schnell und unerwartet, dass ich nichts mehr dagegen tun konnte. Er traf mich voll am Solar Plexus und raubte mir damit eine Sekunde lang die Luft. Ich taumelte zurück, aber noch ehe ich zu Boden sacken konnte, schickte mich ein brutaler Fausthieb endgültig auf die Bretter.
Um mich herum war nur noch Dunkelheit.
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"Heh, aufwachen, Jesse!"
Das erste, was ich sah, war Milos Gesicht. Und ich fühlte eine Welle von Schmerz vom Kopf aus meinen gesamten Körper zu durchfluten. Der Killer hatte mich böse erwischt.
Andererseits musste ich wohl froh sein, überhaupt noch am Leben zu sein.
Mein erster Blick glitt zur Uhr an meinem Handgelenk. Ich war wirklich nur kurz weggetreten gewesen. Und das beruhigte mich.
"Wo...?", hörte mich selber ächzen.
"Die Kerle sind weg. Über die Feuerleiter, vermuten wir. Unsere Fahndung läuft auf Hochtouren, aber es gleicht der Suche nach der berühmten Stecknadel..."
"Wir waren so nahe an ihnen dran..."
Milo nickte.
"Wir kriegen sie noch", versprach er. Ich erhob mich und Milo musste mir dabei helfen. Mir war ein wenig schwindelig.
"Brauchst du einen Arzt Jesse?"
"Nein, lass nur! Alles in Ordnung!"
"Dass ich nicht lache!"
"Wirklich!"
Ich atmete tief durch und rieb mir die Schläfen. Ich hatte furchtbare Kopfschmerzen, aber dagegen würde hoffentlich ein Eisbeutel helfen.
In den leergeräumten Büros der ehemaligen Transportfirma tummelten sich jetzt Spurensicherer der Scientific Research Division, kurz SRD. Dabei handelte es sich um den zentralen Labor- und Erkennungsdienst des New York Police Departments.
Sämtliche Polizeireviere und auch der FBI-Distrikt forderten dort entsprechende Einsatzkräfte an, die sie für die Arbeit am Tatort benötigten.
Viele der Beamten kannte ich von anderen Einsätzen her.
Die Kollegen von der SRD würden sich hier sicher alle Mühe geben, aber ich bezweifelte, dass sie etwas brauchbares finden würden. Die Gegner, mit denen wir es zu tun hatten, waren peinlich darauf bedacht, Spuren zu vermeiden. Es waren emotionslose Killer, die ihren Job machten und dabei kühl kalkulierten.
So sah es jedenfalls aus.
Ich sprach einen der SRD-Kollegen an, der gerade damit beschäftigt war, Patronenhülsen sorgfältig einzusammeln.
"Können Sie mir ein Polaroid von dem Pkw machen, der draußen im Hof steht?"
"Kein Problem, Sir! Aber hier wird ohnehin alles fotografiert."
"So lange möchte ich nicht warten!"
"Verstehe..."
Er tat mir den Gefallen und knipste den Wagen der Gangster vom Fenster aus. Das Foto war kein Meisterwerk, aber man konnte es herumzeigen.
Ich ging mit Milo ins Freie.
Und von dort aus bewegten wir uns in Richtung des Strand Book Stores. Dort wimmelte es inzwischen auch von Beamten der verschiedenen New Yorker Polizeibehörden. Beamten der City Police schirmten den Tatort gegen Schaulustige ab. Spurensicherer des SRD machten genauso ihren peniblen Job, wie der Gerichtsmediziner, dessen Wagen ich in einiger Entfernung parken sah.
Vor dem Laden trafen wir Clive Caravaggio und Orry Medina.
Milo meinte: "Wie wär's, wenn du 'ne kleine Pause machst, Jesse. Ich glaube, du hast sie nötig!"
Ich achtete nicht auf die Worte meines Kollegen.
Stattdessen fragte ich: "Wer war der Tote? Der Kerl, der sich mit mir getroffen