Statt auf einem Schimmel reitend, fuhr ich wenig später träumend im Tram nach Hause und fragte mich, ob Reiten für mich Traum bliebe oder einst zur verwirklichten Idee würde.
Vor dem Einschlafen wirbelten mir all die Ereignisse dieses turbulenten Tages nochmals durch den Kopf: die Klinik, der Scheich und das Fechten. Dazwischen mischte sich immer wieder sie, die Schönheit mit dem Traumgesicht, mein Traumgesicht. Zuerst konzentrierte sich meine Erinnerung auf ihr Lachen und die dabei entstehenden Wangengrübchen, dann mehr auf die leuchtend blauen Augen. Ja, die Augen strahlten und lachten mit. Vielleicht war es das Zusammenspiel ihrer Mimik, das mich so faszinierte. Während sie lächelte, hatte ich den Eindruck, als öffnete sich die Türe zu ihrer Seele einen Spalt und ließ dabei einen kurzen Blick ins Innere zu. Gerne hätte ich mehr gesehen.
Begegnungen
Sarah und ihre Kolleginnen saßen zu einem Kreis formiert im Stationszimmer. Es sprach die Abteilungsschwester, und alle hörten andächtig zu. Offiziell hieß es Mittagsrapport, doch Fabienne nannte es Kaffeekränzchen mit unproduktivem Palaver. Die meisten Kolleginnen, liebten dieses Geplauder, vor allem natürlich Schwester Regula.
Die eher herbe Abteilungsschwester blühte beim Rapport richtiggehend auf und ließ viele persönliche Bemerkungen über die Patienten einfließen. Selbst die Kätzchen der Patientin mit dem Knochentumor kamen zur Sprache, da die Dame nun wegen einer allergischen Reaktion nach Bluttransfusion länger in der Klinik behandelt werden musste. Schwester Regula fand die Liebe zu den Tieren etwas übertrieben, dies hörte man an ihrem ironischen Unterton.
Zuweilen gingen aber Sarah diese Äußerungen zu sehr in den Privatbereich. Doch Schwester Regula, mit ihrer langjährigen Berufserfahrung, lag mit ihren Einschätzungen häufig richtig. Dies anerkannte auch Fabienne.
„Sensibel“, leitete Schwester Regula das Gespräch nun zur nächsten Patientin über „das zierliche Persönchen ist sehr sensibel. Sie kommt aus einem abgelegenen Dorf, aus Niederweningen und ist mit ihren knapp 21 Jahren bereits eine ausgezeichnete Balletttänzerin. Mehrere Preise und Auszeichnungen hat sie bereits gewonnen, das finde ich sehr bemerkenswert.“
Als über die Tänzerin gesprochen wurde, spitzte Sarah ihre Ohren ganz besonders. Die angesprochene zierliche Person war ihre neue Patientin, Céline Muriel Jaquet, Eintritt zur Kreuzbandplastik.
Sarah erinnerte sich an Regulas Worte, als sie ihrer neuen Patientin die eiskalte Hand schüttelte. Die Anspannung war Céline leicht anzumerken, und der ängstliche Blick sprach Bände. Sarah spürte sofort, dass sie die Patientin erst einmal beruhigen musste. Rasch kam sie mit Céline ins Gespräch und fand sie auf Anhieb sympathisch. Gerne wäre Sarah noch länger geblieben, doch draußen wartete noch viel Arbeit.
„Ich komme später wieder“, versprach Sarah mit aufmunterndem Lächeln.
„Ich auch“, antwortete die junge Dame im Spitalbett, „verschieben wir doch die Operation auf ein anders Mal.“
Zuerst dachte Sarah an einen Spaß.
„Unsinn“, ereiferte sie sich „schön hiergeblieben, morgen um diese Zeit haben wir doch alles schon überstanden.“
„Was heißt hier wir? Werden Sie auch operiert?“
Sarah verneinte verlegen. Noch vor kurzer Zeit hatte sie sich über die Formulierungen ihrer Kolleginnen in der Wir-Form gestört, und nun sprach sie selbst auch so.
„Seien Sie kein Nussknacker, Sie wollen doch bald wieder wie ein Schwan tanzen, nicht wahr, Giselle?“
„Ich heiße Céline, aber duzen wir uns doch.“
Da trat Abteilungsschwester Regula ins Zimmer.
„Sie sind noch immer hier, Schwester Sarah? Sie haben noch andere Patienten, die schon auf sie warten.“ Sarahs Vorgesetzte schaute streng. Die Stimme klang harsch. Regula drängte Sarah entschieden aus dem Krankenzimmer. Im Gang wollte Sarah den Grund für ihre Verspätung erklären, doch nach wenigen Worten wurde sie von Regula erneut unwirsch unterbrochen.
„Ach, Patienten, die am Tag vor der Operation kalte Füße bekommen, gibt es immer wieder. Da müssen Sie etwas bestimmter auftreten und ihnen das ein für alle Mal ausreden. Aber dazu haben Sie nicht eine Stunde Zeit. Die Abteilung ist schließlich voll, und die meisten Patienten sind ernsthafter krank als Frau Jaquet. Ich werde das jetzt erledigen. Holen Sie jetzt Herrn al-Haqqaui aus dem Operationssaal ab!“ Ohne eine Antwort abzuwarten, drehte sich die Abteilungsschwester schwungvoll um.
„Wo kämen wir denn da hin, wenn jeder kommt und geht, grad wie es ihm so passt!“, murmelte sie noch kopfschüttelnd.
Sarah war den Tränen nahe, doch sie wagte nicht, zu widersprechen. Wieder fühlte sie sich ungerecht behandelt, da sie ihren Standpunkt nicht hatte darlegen dürfen. Sie wusste, dass ihre junge Patientin noch etwas Aufmunterung nötig gehabt hätte, ein paar Minuten wären ausreichend gewesen. Nun würde die forsche Abteilungsschwester die Sache knapp im Stile eines Generals erledigen, und danach wäre die Patientin unsicherer als zuvor.
Nach der verspäteten Narkose schlief der Scheich lange, und er ließ alles mit sich geschehen. Stündlich musste Sarah Atmung und Kreislauf kontrollieren. Das Einzige, was man vom Scheich hörte, war ein leises Brummen beim Aufpumpen der Blutdruckmanschette. Sarah war zunehmend beunruhigt, als ihr Patient beim dritten Kontrollgang noch immer nicht wach wurde. So blieb ihr nichts anderes übrig, als Schwester Regula zu rufen, was ihr an diesem Tag besonders schwerfiel.
„Alles in bester Ordnung“, meinte die Stationsschwester sachlich, doch von der vorherigen Verärgerung war ihr nicht die Spur anzumerken, „es gibt eben Langschläfer und unser Patient ist – wen wundert es – sogar ein Siebenschläfer. Nur Geduld, der kommt schon zu sich.“ Schwester Regula strahlte dabei eine solche Sicherheit aus, dass Sarah gar nicht auf die Idee gekommen wäre, an den Worten ihrer Vorgesetzten zu zweifeln. Sie war beruhigt, und eigentlich gefiel ihr der orientalische Patient schlafend am besten.
Eben trug sie ihre Beobachtungen im Krankenblatt ein, da fiel ihr auf dem Gang ein junger Arzt auf, den sie zuvor noch nie gesehen hatte. Er schaute nur kurz zu ihr hin, und Sarah war sofort beeindruckt von seinen großen, blauen Augen. Alles was ihr von diesem Gesicht in Erinnerung blieb, waren diese Augen, dieser Blick brannte sich ein.
Unauffällig versuchte sie, ihm nachzuschauen und bemerkte, dass er einen Moment stehen blieb. ‚Hat er mich bemerkt‘, dachte sie und strich sich verwirrt durchs Haar. Sie wusste nicht einmal mehr, ob sie gelächelt hatte. Alles ging so schnell und für weitere Gedanken blieb keine Zeit.
Diese kurze Begegnung hätte sie vielleicht bald vergessen, doch am späteren Nachmittag sah sie den Arzt erneut. Er kam sogar in ihr Stationszimmer und seine Augen richtete er direkt auf sie. Sofort spürte Sarah eine starke Ergriffenheit und konnte nicht anders, als zu ihm hinsehen. Sie konnte gar nicht woanders hinschauen, und dies erstaunte sie selbst sehr. Ganz unverhohlen blickte Sarah in die großen Augen, wie um darin zu lesen. Von Minute zu Minute faszinierte dieser Arzt sie mehr. Sie hatte ein Gefühl, als würde sie ihm auf der Stelle überall hin folgen, wenn er sie darum bitten würde. ‚Was ist nur los‘, fragte sie sich höchst erstaunt. Sie hatte Mühe, sich wieder auf das Wesentliche zu konzentrieren. Ihr Puls raste.
Er stellte sich als Anästhesiearzt Martin Kramer vor. Natürlich bat er nicht darum, dass sie ihm folgen solle, sondern kam wegen des Ölscheichs zu ihr, um andere Schmerzmittel zu verordnen. Die Verordnung bekam Sarah nur am Rande mit. Von seinen Augen dermaßen fasziniert, suchte sie immer wieder Blickkontakt.
Der Arzt erzählte belustigt die Geschichte von den Eskapaden des Arabers im Operationssaal. Im Rausch der Narkose soll er sich wie James Bond gefühlt haben und später auch noch John Lennon imitiert haben. Innerhalb kürzester Zeit verbreitete sich diese Geschichte beim Pflegepersonal.
Alle wussten es, nur der Scheich nicht. Seine Erinnerungen an den Operationssaal waren völlig verblasst.
Kurz vor Arbeitsschluss ging Sarah nochmals ins Zimmer der eingeschüchterten Céline. Sie wollte sich vergewissern,