Mühlviertler Rache. Eva Reichl. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Eva Reichl
Издательство: Автор
Серия:
Жанр произведения: Триллеры
Год издания: 0
isbn: 9783839261620
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ihm wie Gänseküken ihrer Mutter zum Wagen.

      »Können wir nicht doch noch mit Lenzibald fahren?«, bettelte Tobias vor der geöffneten Autotür. Auch wenn die Aussicht, mit seinem Großvater ins Landeskriminalamt fahren zu dürfen, ansonsten Begeisterung bei ihm auslöste, so war das heute nicht der Fall. Lenzibald war nämlich der Name des Drachenzuges am Pöstlingberg. Bei seinen Rundfahrten durch den Wehrturm wurden abwechselnd die Nischen beider Seiten beleuchtet, in denen sich Szenen aus dem Zwergenreich befanden. Bei der letzten Fahrt drang sogar Rauch aus Lenzibalds Nasenlöchern.

      »Wir holen das nach, Tobias«, sagte Stern. »Das verspreche ich dir!«

      Tobias murrte. Zu oft hatte sein Großvater schon etwas versprochen, es aber nicht gehalten. Einmal war ein aktueller Mordfall schuld daran, ein anderes Mal waren neue Beweise in einem alten Mordfall, die er unbedingt bearbeiten musste, der Grund dafür. Irgendetwas kam Stern immer dazwischen. Enttäuscht kletterte Tobias in den Wagen, schnallte sich an und starrte stumm aus dem Fenster.

      Während der Fahrt zur Dienststelle grübelte Stern über die Ereignisse der letzten Stunden nach. Vor allem, wie er es anstellen sollte, gleichzeitig den Mordfall zu bearbeiten und die Kinder seiner Tochter zu hüten. Barbara kam erst morgen Abend aus Graz zurück, so lange musste er auf seine Enkel achtgeben. Das hatte er seiner Tochter versprochen. Er konnte sie nicht anrufen und bitten, dass sie früher kommen sollte. Dann müsste er ihr erklären, warum, und auch, dass er die Kinder mit zum Tatort genommen hatte. Barbara würde ihm die Hölle heißmachen! Bis morgen musste ihm etwas einfallen, um das heute Geschehene vor ihr geheim zu halten. Er würde seine Seele erneut an die Kinder verkaufen müssen. Natürlich hatte er nicht wissen können, dass ausgerechnet an diesem Wochenende jemand einen Mann an den Schienen festband, um ihn vom Zug enthaupten zu lassen. Eine blutige Angelegenheit für die Ermittler, für den Täter hingegen eine wohlüberlegte und saubere Sache. Was mochte das Opfer angestellt haben, dass es in den Augen des Mörders so einen Tod verdiente?

      »Opa?«, unterbrach Tobias Sterns Grübeleien.

      »Ja?« Der Chefinspektor blickte in den Rückspiegel. Auf der ansonsten so glatten, kindlichen Stirn des Neunjährigen befanden sich zwei tiefe Furchen. Ob der Junge jetzt realisierte, was geschehen war?

      »Äh …« Es war Tobias anzusehen, dass ihm die Angelegenheit, die er seinem Großvater mitteilen wollte, unangenehm war.

      »Schieß los!«, ermutigte Stern ihn auszusprechen, was ihm auf der Seele brannte.

      »Ich muss aufs Klo … Schon wieder«, flüsterte Tobias. Melanie sog neben ihm genervt die Luft ein.

      »Wieso bist du nicht im Café gegangen?«, fragte Stern.

      »Da hab ich nicht gemusst.«

      »Hältst du es noch bis zur Dienststelle aus?«

      »Wenn du weiterhin wie eine Schnecke fährst, wahrscheinlich nicht«, warf Melanie ungerührt ein und blickte seitwärts aus dem Fenster, wo die noblen Wohnsiedlungen des Pöstlingberges langsam an ihnen vorüberzogen.

      Stern brummte. Dass er nicht gerade als Raser bekannt war, wusste er. Aber wenn seine Enkelin ihn mit einer Schnecke verglich, schmerzte das schon ein wenig. Er stieg aufs Gaspedal und beschleunigte das Tempo auf die erlaubte Höchstgeschwindigkeit. Gleichzeitig hoffte er, dass der Stadtverkehr zu dieser Zeit nicht so dicht war und sich kein Stau gebildet hatte, damit sie es rechtzeitig aufs Landeskriminalamt schafften, bevor Tobias’ Blase platzte.

      Nach 15 Minuten stieß Stern die Eingangstür zur Dienststelle auf und zeigte Tobias den Weg zur Toilette. Der Chefinspektor und Melanie warteten davor, bis Tobias sein Geschäft verrichtet hatte, was mindestens genauso lang dauerte wie die Fahrt hierher, dachte Stern und blickte wiederholt auf seine Armbanduhr. Die Kollegen warteten seit geraumer Zeit auf ihn. Gemeinsam wollten sie in einer Dienstbesprechung die weiteren Schritte durchgehen und die Aufgaben unter den Kollegen verteilen. Melanie und Tobias sollten sich derweilen in seinem Büro beschäftigen.

      Endlich ging die Tür der Herrentoilette auf.

      »Ist alles in Ordnung?«, fragte Stern. Er hatte noch immer Angst, dass sich Spätfolgen des heutigen Tages bei seinem Enkel einstellen könnten.

      »Ja, Opa, alles bestens.« Tobias lächelte seinen Großvater an. »Und? Was machen wir jetzt?« Er schien das alles viel zu aufregend zu finden, als dass er die Füße still halten konnte. Den verschobenen Besuch der Grottenbahn hatte er anscheinend vergessen.

      »Ich rede mal mit den Kollegen, und ihr beide bleibt so lange in meinem Büro.«

      »Darf ich denn nicht mitkommen? Mama hat gesagt, ich soll dir nicht von der Seite weichen«, offenbarte Tobias eine weitere geheime Anweisung der Mutter.

      »Damit hat sie nicht gemeint, dass du mir Schritt auf Tritt folgen sollst. Ich muss schließlich mal aufs Klo. Willst du da etwa auch mit?«

      »Nein!«, antwortete Tobias entschieden. »Aber …«

      »Kein Aber! Ihr beide wartet in meinem Büro auf mich, und damit basta!«

      »Dürfen wir wenigstens mit dem Handy spielen?«, fragte Melanie. Gleichzeitig schob Stern sie und ihren Bruder in sein Büro, deutete auf zwei Stühle und räumte ein paar Akten vom Tisch.

      »Nur wenn ihr eurer Mutter nichts von dem verratet, was heute passiert ist.« Stern sah darin seine Chance, sich aus seinem Dilemma freizukaufen. Wenn die Kinder dichthielten, brauchte er Barbara gegenüber nicht die geringste Silbe zu erwähnen. Mahnend hob er den Zeigefinger. »Ansonsten konfisziere ich eure Handys.«

      »Konfi… was?«, fragte Tobias.

      »Beschlagnahmen«, erklärte Melanie ihrem Bruder.

      »Und was sollen wir die ganze Zeit in deinem Büro tun? Das wird bestimmt stinklangweilig.« Tobias setzte sich schmollend auf einen Besprechungsstuhl, während Stern seine Hand nach den Mobiltelefonen ausstreckte.

      »Schon gut. Wir verraten Mama nichts«, lenkte Melanie ein, die ohne Handy nicht auszukommen schien. In diesem Fall war das für Stern gut und er lächelte.

      »Aber …« Tobias wollte aufbegehren, doch seine Schwester brachte ihn mit einem finsteren Blick zum Schweigen.

      »Wir müssen sowieso hier warten. Dann tun wir das doch lieber mit unseren Handys, oder?«, erklärte sie Tobias.

      Zufrieden über den Deal verließ Stern sein Büro und ging hinüber zu den Gruppeninspektoren. Dort surrte der Drucker und walzte ein Foto nach dem anderen vom Tatort und vom Opfer auf die Druckerablage. Grünbrecht befestigte sie der Reihe nach an der fahrbaren Magnettafel, die Mirscher zwischen ihrem und Kolanskis Schreibtisch gerollt und dort fixiert hatte. Es kam Stern vor, als deutete Mirscher einen Kuss in Richtung Grünbrecht an. Er seufzte. Seit die beiden auch offiziell ein Paar waren, quälten sie ihre Umgebung mit diesen heimlichen Liebesbotschaften. Er hoffte, dass die erste Verliebtheit bald abflaute und sich so dieses Küsschen hier und Küsschen da von selbst reduzierte, ohne dass er etwas sagen musste.

      »Okay, was haben wir?«, eröffnete er die Dienstbesprechung.

      »Einen toten Mann um die 40, laut Weber«, begann Grünbrecht mit dem Aufzählen der Fakten. »Er wurde von einem Zug überrollt und enthauptet.«

      »Ich hab mich die ganze Zeit gefragt, wenn man so mit den Händen und Füßen an den Gleisen festgebunden ist, ob es da nicht möglich wäre, den Kopf einzuziehen und sich so zu krümmen, dass der Kopf dann zwischen den Gleisen steckt. Auf die Hände und Füße kann man ja irgendwie verzichten.« Mirscher verdeutlichte seine Überlegung, indem er körperlich nachzustellen versuchte, was er meinte. Das Ganze sah aus, als übte er für einen Tanz aus Fernost oder für eine japanische Kampfsportart.

      »Du meinst, du würdest, anstatt gleich zu sterben, lieber elendig verbluten wollen?«, fragte Kolanski seinen Kollegen, der daraufhin die seltsamen Verrenkungen bleiben ließ.

      »Wenn dir beide Hände und Füße gleichzeitig abgetrennt werden, verblutest du innerhalb weniger Minuten«, schloss sich Stern Kolanski an.

      »War