»Keine Ahnung, wo Grünbrecht steckt. Vor einer halben Stunde war sie noch da«, antwortete Kolanski, der die Vermisstenanzeigen durchackerte.
»Hier!« Stern stellte den Aktenkoffer auf Mirschers Schreibtisch. »Den haben Tobias und ich gefunden. Wenn wir Glück haben, gehört er unserem Opfer und wir wissen endlich, wer er ist. Lasst ihn und den Inhalt von der Spurensicherung auf Fingerabdrücke und DNA-Spuren untersuchen.«
»Ja, Chef«, sagte Mirscher, stand auf und schickte sich an, mit dem Koffer das Büro zu verlassen.
»Und du weißt sicher nicht, wo Grünbrecht ist?« Stern hielt seinen Kollegen am Arm zurück und sah ihn eindringlich an. Schließlich waren die beiden miteinander verlobt, da könnte man doch meinen, dass er wüsste …
»Nein, Chef. Ich spioniere ihr nicht hinterher. Aber ich kann sie für dich anrufen, wenn du möchtest.«
»Danke, das mach ich schon selber.« Stern zog sein Handy aus der Jackentasche und wählte Grünbrechts Nummer. Nach nur zweimaligem Läuten hob die Gruppeninspektorin ab.
»Grünbrecht, wo stecken Sie?«, fragte Stern ohne Begrüßungsfloskel.
»Die Frage sollte wohl eher lauten, wo Sie stecken«, parierte Grünbrecht eine Spur zu scharf.
»Ich? Wieso?« Stern verfiel sofort in Verteidigungshaltung, obwohl er Grünbrechts Vorgesetzter war. Aber er spürte, dass er gut daran tat, seine Kollegin nicht zu reizen.
»Weil Sie ein Kind in Ihrem Büro über mehrere Stunden alleine gelassen haben«, klärte Grünbrecht ihn über den Grund ihrer Verstimmung auf.
»Melanie ist bei Ihnen?«, kombinierte Stern das Fehlen seiner Enkelin mit dem angriffslustigen Gehabe der Kollegin.
»Ja, wir essen gerade Pizza. Verhungern hätten Sie sie nämlich auch noch lassen. Stimmt es, dass die Kids heute lediglich ein Eis zum …«
»Danke, Grünbrecht. Wo seid ihr? Ich und Tobias kommen zu euch«, unterbrach Stern die Kollegin, bevor ihr noch mehr einfiel, was sie ihm vorwerfen konnte. Trotzdem war Stern erleichtert. Er hatte schon gedacht, dass Melanie aus Zorn oder Verdruss abgehauen sein könnte. Wäre ja nicht das erste Mal, dass Kindern in diesem Alter so etwas einfiel und sie es für eine gute Idee hielten, um den Erwachsenen zu zeigen, was sie alles draufhatten. Und der heutige Tag war wirklich nicht sehr angenehm für seine Enkelin verlaufen.
»In der Monte Verde in Urfahr, Hauptstraße. Wir warten«, kam es knapp aus dem Hörer, bevor die Verbindung unterbrochen wurde.
Stern sog die Luft ein. Mara Grünbrecht war anscheinend stinksauer auf ihn.
»Alles okay, Opa?«, fragte Tobias.
»Alles okay. Wir gehen jetzt Pizza essen«, antwortete Stern und drückte die Hand seines Enkels.
Etwa eine halbe Stunde später, nachdem sich Stern und Tobias durch den Abendverkehr auf der Unteren Donaulände und der Nibelungenbrücke gequält hatten, parkte Stern den Wagen in der Hauptstraße in Urfahr nahe der Pizzeria Monte Verde. Tobias sprang von der Rücksitzbank, knallte die Autotür zu und lief in Richtung des Lokaleingangs davon. Er liebte Pizza, das wusste der Chefinspektor. Alle Kinder mochten Pizza. Stern hingegen wäre ein saftiger Schweinsbraten mit Semmelknödel lieber. Dabei dachte er an die Brücklwirtin in Liebenau. Ihr Schweinsbraten war der beste, den er jemals gegessen hatte. Er hatte Maria Brückl bei einem Mordfall kennen und schätzen gelernt, vor allem ihre gutbürgerliche Küche. Vielleicht sollte er mit den Kindern mal einen Ausflug dorthin machen.
Stern und Tobias betraten das Monte Verde. Das Lokal war nicht besonders groß und seit dem letzten Umbau mehr als gut besucht. Der Chefinspektor hielt in dem länglichen Gastraum Ausschau nach Mara Grünbrecht und seiner Enkelin. Weiter hinten entdeckte er die beiden und steuerte auf sie zu.
»Grüß euch.« Stern blieb neben dem Tisch stehen und versuchte, die Stimmungslage zu erkunden.
»Hallo, Opa«, grüßte Melanie gutgelaunt. Sie war schon mal nicht das Problem. Es schien ihr gutzugehen, und ihr dürfte auch die Gesellschaft von Grünbrecht gefallen. Sterns Blick wanderte hinüber zu seiner Kollegin. Die nickte ihm zwar zu, sagte jedoch nichts.
»Habt ihr bereits gegessen?«, fragte er und zog für Tobias einen Stuhl zurecht. Der setzte sich und lächelte Mara Grünbrecht an. Tobias mochte die Gruppeninspektorin. Sie hatte ihn vor nicht allzu langer Zeit mit Blaulicht und Sirene zur Schule gefahren, wo ihm die Aufmerksamkeit der anderen Kinder gewiss gewesen war – ein Highlight im Leben des Neunjährigen, von dem er gerne erzählte.
»Ja, haben wir«, antwortete Melanie. »Wo seid ihr denn so lange gewesen? Wenn Mara mich nicht gerettet hätte, läge ich jetzt tot in deinem Büro, Opa. Ich wäre nämlich beinahe verhungert.« Melanie lachte trotz der ernsten Beschuldigung.
Zu gern wüsste Stern, über was die beiden in seiner Abwesenheit gesprochen hatten. Er hoffte, dass Melanie keine Familiengeheimnisse ausgeplaudert hatte, die Grünbrecht später brühwarm den Kollegen weitererzählte und die er dann bei passender Gelegenheit von ihnen serviert bekäme. Geburtstags- und Weihnachtsfeiern im Kollegenkreis waren dafür berüchtigt, damit auf Lacher-Jagd zu gehen.
»Wir haben neben der S10 einen Aktenkoffer gefunden. Wenn er dem Toten gehört, können wir ihn damit identifizieren«, sagte Stern wie beiläufig, um wieder auf sicheres Terrain zu gelangen.
»Wie, gefunden?« Anscheinend hatte Stern nun Grünbrechts Interesse geweckt, da sie ihr Schweigen brach. Ein Schweigen, das ihn hätte bestrafen sollen, weil sie sich um Melanie hatte kümmern müssen. Oder weil sie ihn als Raben-Opa betrachtete, da er die Kleine allein im Büro gelassen hatte. Doch nach Sterns Meinung war eine Zwölfjährige mit einem Handy alles andere als allein. Sie hätte ihn ja anrufen können, wenn sie das Bedürfnis danach gehabt hätte. Oder wenn sie wirklich in Not geraten wäre, hätte sie bloß laut zu rufen brauchen. Das ganze Landeskriminalamt war voller Polizisten.
»Ich hab ihn gefunden, weil ich mal gemusst hab«, platzte Tobias heraus.
»Tobias!«, rügte Melanie ihren Bruder. Sie empfand es in Gegenwart einer Außenstehenden als peinlich, über die Bedürfnisse des Körpers zu sprechen.
»Du hast was gemusst?«, hakte Grünbrecht nach. Da sie noch keine Kinder hatte, verzieh ihr Stern die lange Leitung, auf der sie anscheinend stand.
»Pipi und …«
»Tobias!«, riefen Stern und Melanie im Chor. Schließlich befanden sie sich in einer Pizzeria, und die anderen Gäste am Nachbartisch schauten schon, da der Neunjährige nicht gerade leise redete.
»Oh! Klar.« Grünbrecht überging die Peinlichkeit und sah Tobias an. Stern hingegen würdigte sie keines Blickes. Sie redete nur mit dem Jungen. »Echt toll, dass du den Aktenkoffer gefunden hast! Und wo war das?«
»Neben der Schnellstraße«, erzählte Tobias bereitwillig. »Opa hat mich über die Leitplanke klettern lassen, und da bin ich dann hinter das Gebüsch, und dort ist er dann gelegen. Ich hab nur einen Kugelschreiber und das Feuerzeug mitgenommen, und weil wir schon so spät dran gewesen sind, hab ich dann vergessen, Opa davon zu erzählen, was sonst noch so alles dort rumgelegen hat. Außerdem ist Opa nicht für den Müll anderer Leute zuständig. Erst in seinem Büro hat Opa den Kugelschreiber gesehen und von mir wissen wollen, wo ich den herhab, und ich hab es ihm dann erzählt.« Tobias streckte die Hände von sich, als läge der Rest klar auf der Hand. Das tat er auch, trotzdem ergänzte Stern: »Wir sind noch mal hingefahren und haben den Koffer geholt. Die Kollegen untersuchen ihn gerade auf Fingerabdrücke und DNA-Spuren.«
»Aber wieso liegt der Koffer des Toten – wir nehmen jetzt mal an, dass er tatsächlich unserem Opfer gehört –, also warum liegt der Koffer in Fahrtrichtung Freistadt und nicht in der entgegengesetzten Richtung?«, flüsterte Mara Grünbrecht Stern zu, weil es ihr unangenehm war,