Mühlviertler Rache. Eva Reichl. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Eva Reichl
Издательство: Автор
Серия:
Жанр произведения: Триллеры
Год издания: 0
isbn: 9783839261620
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Tod regelrecht ins Auge geblickt.

      »Haben Sie an der Bahntrasse, am Rand der Strecke oder im Wald jemanden gesehen?«, hakte Stern nach.

      »Sie meinen, außer den Toten?«

      Stern nickte.

      »Nein.«

      »Sind Sie sicher?«

      Manuel Meier überlegte kurz, bevor er antwortete: »Ich denke schon.«

      In diesem Augenblick hörte Stern seinen Enkel rufen. »Opa!«

      Nicht jetzt, dachte er und blickte sich nach Melanie und Tobias um. Während die Zwölfjährige vor Sterns Audi am Boden hockte und mit eingestöpselten Kopfhörern auf ihrem Smartphone herumwischte, war von Tobias nichts zu sehen.

      »Opa!«, drang es erneut an Sterns Ohr, dieses Mal lauter.

      »Entschuldigen Sie mich einen Augenblick«, sagte der Chefinspektor zu Manuel Meier und stieß sich eine Spur zu heftig von der Rettungstrage ab, sodass diese ins Wanken geriet. Meier hielt sich mit einer Hand fest, damit er nicht herunterfiel, und verschüttete dabei den Kaffee, den er mit der anderen umklammerte.

      »Entschuldigung«, brummte Stern, während sein Blick bereits die Umgebung nach seinem Enkel absuchte. Um das Kaffeemalheur mussten sich andere kümmern, denn von Tobias war nichts zu sehen. Weder entdeckte Stern ihn in der Nähe seiner Schwester noch am Waldrand oder in der Zufahrt zu dem kleinen Wäldchen. Wo steckte der Bengel bloß?, schoss es ihm durch den Kopf und auch, dass er für diesen Kinderkram eigentlich zu alt war. Er war der Großvater und nicht der Vater, der ganz andere Fürsorgepflichten hatte! Nur noch wenige Jahre trennten ihn von seinem wohlverdienten Ruhestand und einem Leben ohne Stress, Mord und Totschlag. Obwohl so ein Fall wie dieser seine hin und wieder aufkommenden Pensionierungsängste zu verdrängen vermochte, musste er zugeben: Auf eine ganz bestimmte Weise fühlte er sich dann wieder jung und fit. Und gebraucht.

      »Opa!«

      Stern folgte den Rufen seines Enkels. Sie führten ihn zur Bahntrasse hinunter. Als Stern klar wurde, was das bedeutete, beschleunigte er den Schritt.

      »Tobias?«, rief er.

      »Ich bin hier«, kam es zwischen Unmengen an Brennnesseln und Gestrüpp hervor. Stern blinzelte und trat noch ein paar Schritte näher. Dann entdeckte er das blaue T-Shirt seines Enkels inmitten des meterhohen Grüns.

      »Tobias, was machst du da?«, fragte er erleichtert, als er den Jungen am Boden hocken sah. Gott sei Dank ein gutes Stück vom Tatort entfernt.

      »Er sieht mich an«, sagte Tobias, die Augen starr nach vorn gerichtet.

      »Wer sieht dich an?«, wollte Stern wissen und blickte auf seine Armbanduhr. Er musste schnell zurück und die Befragung des Lockführers fortsetzen.

      »Der Waldgeist.«

      »Es gibt keine Geister, Tobias. Du bist für diesen Schei… äh … für diese Märchen zu alt. Komm jetzt! Ich muss noch …«

      »Warum macht er die Augen nicht zu?«, fragte Tobias weiter, ohne sich von der Stelle zu rühren.

      »Dann könnte er dich ja nicht ansehen«, antwortete Stern gereizt, wandte sich ab und machte sich ohne seinen Enkel auf den Weg zurück zum Rettungswagen. Wenn Tobias Geisterjäger spielen wollte, dann sollte er das seinetwegen tun. Dort bei den Brennnesseln konnte ihm nichts passieren, außer er fiel in sie hinein. Das wäre zwar unangenehm und zöge bestimmt viele Fragen von Barbara nach sich, doch die wären schnell beantwortet. Irgendwie. Vielleicht sollte er den Sanitäter doch um einen Becher Kaffee bitten …

      »Aber er ist doch tot.«

      Abrupt blieb Stern stehen. »Wie? Tot?«

      »Der Waldgeist. Er ist tot, oder etwa nicht?« Tobias starrte in die Brennnesseln, die hier eindeutig über all das andere Grünzeug die Oberhand gewonnen hatten und die ganze Gegend mit einem unangenehm juckenden Teppich überzogen. Stern machte kehrt und kam zu seinem Enkel zurück. Wegen der Brennnesseln blieb er mehrere Meter hinter ihm stehen und spähte von dort über dessen Schulter. Außer einem Dickicht aus Urticapflanzen sah er nichts weiter.

      »Wo ist er?«, fragte er Böses ahnend.

      »Dort!« Tobias wies mit dem ausgestreckten Arm in das Unterholz. Stern, der sich schon gefragt hatte, wie der Junge überhaupt dorthin gelangt war, ohne unzählige Male gebrennnesselt worden zu sein, trat vorsichtig die Urticas zur Seite und näherte sich Tobias. Als er ihn erreichte, bückte er sich zu ihm hinab, um denselben Blickwinkel zu haben wie er … Und dann sah er ihn! Er sah den Waldgeist seines Enkels! Und den Kopf des Opfers! Die Augen weit aufgerissen und den Mund zu einem Schrei geformt, der wahrscheinlich in der letzten Sekunde seiner Kehle entrissen worden war, bevor ihn der Zug überrollt hatte. Ein Schrei von allen ungehört. Außer vielleicht vom Täter.

      Sofort legte Stern die Hand auf Tobias’ Augen.

      »Aber Opa, ich hab ihn doch schon gesehen, bevor du gekommen bist«, rief Tobias entrüstet und befreite sich von seinem Großvater.

      »Das ist nichts für dich«, brummte Stern. Er zog seinen Enkel hoch, weg von der Stelle, wo der vermeintliche Waldgeist unaufhörlich Löcher ins Gestrüpp starrte. Das würde er so lange tun, bis ihn jemand davon erlöste. Dieser Jemand sollte Gruppeninspektorin Mara Grünbrecht sein, beschloss Stern.

      »Grünbrecht!«, rief er nach der Kollegin, die sofort herbeieilte und sich dorthin wandte, wohin Stern kommentarlos mit dem Finger zeigte. Dass ihr Chef seinen Enkel von der Stelle wegzerrte, war Erklärung genug.

      »Hab ich dir und deinen Kollegen helfen können?«, fragte Tobias, während Stern ihn neben den Lokführer auf die Trage des Rettungswagens hob und einen Becher Tee für den Jungen und für sich selbst einen gefüllt mit Kaffee orderte. Der Sanitäter verdrehte die Augen und meinte, dass dies keine Cafeteria sei. Doch als Stern eine Erklärung folgen ließ, die beinhaltete, dass der Junge möglicherweise einen schweren Schock erlitten habe, weil er den Kopf der Leiche gefunden hatte, waren Tee und Kaffee umgehend im Anmarsch.

      »Du hast uns sehr geholfen«, antwortete Stern und packte Tobias beidseitig an den Schultern. Er sah ihm tief in die Augen, um herauszufinden, wie es dem Jungen ging. Anscheinend hatte er den Anblick des abgetrennten Kopfes gut überstanden. »Jetzt können wir die Lei… äh, den Waldgeist wahrscheinlich identifizieren.«

      »Toll!« Tobias strahlte übers ganze Gesicht. Das wunderte Stern. So ein Anblick müsste doch Spuren im Gemüt des Neunjährigen hinterlassen haben, ihn zum Weinen bringen, ihn sich übergeben oder zumindest sich fürchten lassen.

      »Untersuchen Sie ihn!«, befahl Stern dem Sanitäter. »Herz, Kreislauf, alles, was dazugehört. Ich will, dass Sie alles an ihm checken. Sogar den kleinen Zeh!«

      »Aber Opa, mir fehlt gar nichts«, widersetzte sich Tobias den Anweisungen des Großvaters und sprang von der Trage herunter.

      »Das weißt du doch gar nicht«, erwiderte Stern und verfrachtete seinen Enkel zurück in den Rettungswagen. Zumindest war er dort für die nächsten Minuten sicher und es war gewährleistet, dass er nicht auch noch die fehlende abgetrennte Hand fand. »Du lässt dich jetzt von dem netten Herrn untersuchen und danach fahren wir auf ein Eis.«

      »Versprochen?«, quiekte Tobias aufgeregt. Zuerst eine Leiche und dann ein Eis – das war der Jackpot für den Neunjährigen! Freudig streckte er seinem Großvater die Hand entgegen.

      Der schlug ein und sagte: »Versprochen!« Danach wandte er sich ab und überließ Tobias dem Sanitäter, der sich sofort um den Jungen kümmerte.

      Stern ging zurück zu Mara Grünbrecht und jener Stelle, an der Tobias den Kopf des Opfers gefunden hatte. Nun steckte er in einem Plastikbeutel und sah aus wie ein Dekorationsstück aus der Geisterbahn des Wiener Praters.

      »Der gehört zweifellos unserem Mann«, sagte Grünbrecht.

      »Natürlich gehört er dem Opfer. So viele Kopflose wird es hier im Mühlviertel ja wohl nicht geben«, brummte Stern, nicht ahnend, wie falsch er