»Stern«, meldete er sich zwischen nasepopelnder und pubertierender Parkbank stehend.
»Bormann hier! Stern, wo sind Sie? Wir haben einen Toten! Auf der ÖBB-Bahnstrecke zwischen Freistadt und Summerau. Sie müssen sofort hinfahren«, drang es an Sterns Ohr.
»Es wird eine Weile dauern. Ich hab heute die Kinder meiner Tochter …«
»Sofort, Stern! Die ÖBB sitzt mir im Nacken! Die wollen die Strecke so schnell wie möglich wieder freigeben. Sie wissen ja, der Chef der ÖBB geht mit dem Landeshauptmann golfen.«
»Die Strecke wird erst freigegeben, wenn ich das sage. Teilen Sie den Leuten von der ÖBB mit, dass ich unterwegs bin, aber wie gesagt, es wird eine Weile dauern.« Stern beendete das Gespräch, steckte Handy und Dienstausweis ein und machte kehrt. »Tobias!« Mit einer Geste deutete er seinem Enkel, er möge zu ihnen auf die Parkbank kommen. Auf die pubertierende.
Tobias sprang von dem Klettergerüst und rannte auf seinen Großvater zu. Der saß mittlerweile wieder neben Melanie auf der Bank. Die neue Situation stellte ihn vor eine echte Herausforderung. Er hatte die Kinder seiner Tochter Barbara bis morgen Abend unter seiner Obhut, da diese zu ihrer Mutter nach Graz gefahren war. Seine Ex sei krank, hatte Barbara ihm mitgeteilt und auch, dass sie nach ihr sehen und ihr zwei Tage lang unter die Arme greifen wolle. Ohne Kinder natürlich. Die würden sich bei der kranken Großmutter lediglich anstecken und sich außerdem in der kleinen Zweizimmerwohnung langweilen. Stern zweifelte daran, dass seine Exfrau Franziska tatsächlich krank war. Zumindest körperlich. Erst vor Kurzem war ihre Beziehung zu jenem Mann in die Brüche gegangen, für den sie Stern vor Jahren verlassen hatte, was Stern nicht ohne eine gewisse Genugtuung registriert hatte. Denn damals hatte sie einfach alles stehen und liegen lassen und war mit ihrem neuen, viel jüngeren Lover nach Graz abgehauen. Auch wenn das bereits mehrere Jahre zurücklag und man meinen könnte, dass Stern über diesen Affront längst hinweg sei, hatte das Bekanntwerden der Trennung seiner Ex ein gewisses Glücksgefühl in ihm ausgelöst. Er würde das zwar niemals zugeben, aber ein paar Tage lang hatte er sich gefühlt, als schwebte er auf Wolken. Dass dieses Gefühl Schadenfreude gewesen war, hatte er sich natürlich nicht eingestanden.
»Was ist denn, Opa?«, fragte Tobias keuchend, als er sich völlig aus der Puste auf die Parkbank fallen ließ. Seine kurzen braunen Locken klebten ihm auf der Stirn und im Nacken und seine Rehaugen hefteten sich neugierig auf den Großvater.
»Ich muss kurz mal überlegen«, sagte Stern, und seine grauen Gehirnzellen liefen in der Tat zur Höchstform auf. Er wusste, dass seine Tochter Barbara es nicht mochte, wenn er den Kindern von seinen Fällen berichtete, die er im Landeskriminalamt als Chef der Mordgruppe bearbeitete. Wie fände sie es dann, wenn er sie zu einem Tatort mitnähme? Sie würde ihm seine geistigen Fähigkeiten absprechen, seinen Verstand infrage stellen und behaupten, sein Verantwortungsbewusstsein habe sich in Luft aufgelöst. Aber wo sollte er die Kinder so schnell unterbringen? Bis Barbara aus Graz hier wäre, vergingen locker vier Stunden, und Bormann würde ihm den Arsch aufreißen, wenn er nicht bald am Tatort erschien, wegen des Golf spielenden ÖBB-Chefs und dessen Golfpartner, dem Landeshauptmann.
»Was musst du denn überlegen?«, unterbrach Tobias Sterns Grübeleien, rutschte nach vorn auf die Kante der Bank und zog mit den Füßen einen Kreis in den gekiesten Boden.
»Wie er uns ganz schnell loswerden kann«, warf Melanie bissig ein.
»Melanie!« Stern war über die Ansicht seiner Enkelin empört.
»Stimmt doch, oder etwa nicht?« Auf Melanies Gesicht zeigte sich ein Grinsen, während ihre Augen feindselig funkelten. Es war das erste Mal, dass sie lächelte, seit sie in seiner Obhut war, auch wenn das Leid des Großvaters der Grund für ihre Heiterkeit zu sein schien, weil er nicht wusste, wohin so schnell mit den Kindern.
»Könnt ihr für ein paar Stunden zu Freunden?«, wagte Stern einen Vorstoß.
»Mama hat gesagt, dass wir auf gar keinen Fall mitspielen sollen, wenn du versuchst, uns abzuschieben«, erzählte Tobias bereitwillig, während er dem Kreis auf dem Boden ein Paar Augen, eine Nase und einen Mund verpasste.
Stern seufzte. So war das also. Die Meute hielt zusammen. Das war gut, auch wenn es ihm das Leben erschwerte.
»Also, ich könnte zu Martin fahren. Mit der Straßenbahn. Brauchst mich nicht zu bringen«, sagte Melanie wie beiläufig und versuchte, Sterns Blick auszuweichen.
Der Chefinspektor setzte sich aufrecht hin und sah seiner Enkelin ins Gesicht. »Sicher nicht, junge Dame! Dafür bist du eindeutig nicht alt genug!«
»Ich bin zwölf!«, begehrte Melanie auf.
»Ich weiß, und das ist zu jung für … so etwas!« Stern fuchtelte mit den Armen in der Luft herum, um zu verdeutlichen, was er meinte.
»So etwas nennt man Liebe«, giftete Melanie ihn an. »Aber davon hast du ja keine Ahnung. Oma hat dich schließlich verlassen. Wer weiß schon genau, warum …« Als sie den Blick des Großvaters sah, verstummte sie.
»Ihr kommt mit!«, fällte Stern eine bedeutungsvolle Entscheidung. Tobias würde sich wegen des Auftrags seiner Mutter ohnehin weigern, zu einem Freund zu gehen, und Melanie würde nur Blödsinn anstellen, für den Stern nicht die Verantwortung übernehmen wollte. Barbara brächte ihn zwar um, wenn sie erfahren würde, dass er die Kinder mit an einen Tatort genommen hatte, aber das musste er halt verhindern. Er stand auf und stellte sich breitbeinig vor seine Enkelkinder. »Wenn ihr eurer Mutter nicht verratet, wohin wir gleich fahren, dann bekommt ihr eure Handys zurück und dürft tun, was immer ihr sonst auch damit anstellt. Ist das ein Deal?«
»Das ist ein Deal!«, rief Tobias. Er sprang auf und hielt seinem Großvater die gestreckte Hand hin. »Gib mir fünf!«
Stern lächelte und schlug ein. Sein Enkel war schnell zu begeistern, vor allem für Sachen, die etwas mit der Arbeit seines Großvaters zu tun hatten. Stern wollte jedoch verhindern, dass seine Enkelkinder zu viel von dem Fall mitbekamen. Wie er das allerdings anstellen sollte, musste er erst noch überlegen, und zwar auf der Fahrt, die von Linz nach Freistadt mit zwei Kindern auf der Rücksitzbank, denen er durch den Deal buchstäblich ausgeliefert war, ohnehin lange genug dauern würde. Er wartete noch auf Melanies Reaktion. Die Zwölfjährige saß auf der Parkbank und blitzte ihren Großvater aus schmalen Schlitzen an. Er wusste, dass sie gerade ihre Fangnetze auslegte und hoffte, er würde sich darin verheddern. Trotzdem hatte er keine Wahl.
»Dann hab ich etwas gut bei dir«, sagte Melanie, ohne dieses Mal den Blick von ihm abzuwenden. Stern war über ihr Selbstbewusstsein überrascht und auch ein wenig stolz. Schließlich war sie seine Enkeltochter. Er nickte zustimmend, da sie es eilig hatten.
Melanie stand von der Parkbank auf und wollte sich an ihrem Großvater vorbeidrücken, aber der hielt sie am Arm zurück.
»Deal?«, fragte er und streckte ihr die Hand entgegen.
Melanie sah sich um, ob sie beobachtet wurden. Als sie niemanden entdeckte, den sie kannte, und auch niemanden, bei dem es wichtig war, dass sie cool wirkte, klatschte sie in die Hand des Großvaters ein.
»Deal!«
*
Nach einem anfänglichen Streit, welche Musik Sterns Audi A6 während der Fahrt