Leopold schaute skeptisch drein. »Das würdest du wirklich befürworten?«, fragte er.
»Du könntest mir diesmal eine große Hilfe sein, wenn du dich an die Spielregeln hältst«, versicherte Juricek. »Du darfst eine gewisse Eigeninitiative entwickeln, hast uns aber stets über deine Aktionen auf dem Laufenden zu halten. Na, wie gefällt dir das?«
»Einen Augenblick«, mischte sich jetzt Frau Heller in die Unterhaltung ein. »Heißt das, Sie wollen mir einfach so mir nichts, dir nichts einen meiner beiden Oberkellner wegnehmen?«
»Natürlich nicht«, beruhigte Juricek sie sofort. »Es wäre auch zu auffällig, wenn sich Leopold nicht mehr im Heller blicken ließe. Er müsste sich die Arbeit aufteilen und seine Stunden hier selbstverständlich weiterhin ableisten. Aber das stört dich doch nicht, wenn’s was zu ermitteln gibt, oder?«
»Ich bin nicht mehr der Jüngste, Richard«, gab Leopold zu bedenken. »Und im Schopenhauer ist alles anders: das Angebot, die Preise und vor allem die Sitten und Gebräuche. Ich komme sicher ganz durcheinander. Wie soll ich mich da auf einen Kriminalfall konzentrieren?«
»Ich dachte, du würdest mehr Begeisterung zeigen«, meinte Juricek achselzuckend. »Mein Offert gilt jedenfalls. Du kannst es annehmen oder auch nicht. Ich würde dich auch immer auf dem neuesten Stand unserer Ermittlungen halten«, fügte er gönnerhaft hinzu.
In Leopolds Brust kämpften zwei Seelen. Natürlich war er Feuer und Flamme, in einem Mordfall einmal auf Juriceks ausdrückliches Ersuchen ermitteln zu dürfen. Das war seiner Erinnerung nach noch nie der Fall gewesen. Es handelte sich um eine Auszeichnung, eine Anerkennung seiner bisherigen Leistungen, spät, aber doch. So etwas lehnte man nicht ab. Andererseits sah er erhebliche Belastungen auf sich zukommen. Am Vormittag da servieren, am Nachmittag und Abend dort, ohne angemessene Freizeit, das hörte sich heftig an. Das Schopenhauer hatte zudem sogar am Sonntag geöffnet und servierte da seinen berühmten Brunch. Leopolds Körper und Arbeitsmoral würden auf eine harte Probe gestellt werden. Und wie viel Zeit würde er für seine Lebensgefährtin Erika Haller haben? Die wenigen Stunden im gemeinsamen neuen trauten Heim würde er zur Ruhe und Regeneration brauchen. Das würde Erika überhaupt nicht gefallen, und Leopold würde sich einiges überlegen müssen, um sie bei Laune zu halten.
Er schaute ins gestrenge Gesicht von Frau Heller. Von dieser Seite war keine Unterstützung zu erwarten. Seine Chefin würde ihn höchstens als Vermittler benutzen, um wieder zarte Bande mit Moritz Bäcker anzuknüpfen. »Na schön, ich mach’s«, verkündete er schließlich und wunderte sich, dass er so lange darüber nachgedacht hatte.
»Gut«, nickte Juricek zufrieden. »Das bedeutet Folgendes: Du versiehst morgen Vormittag deinen Dienst hier wie gewohnt. Anschließend besuchst du mich am Kommissariat, damit ich dich auf den neuesten Stand bringe. Am Nachmittag beginnst du dann deine Arbeit im Schopenhauer. Hoffen wir, dass es klappt.«
*
Mittwoch, 17. Oktober, Vormittag
Am nächsten Tag begann Leopold seinen Dienst im Heller mit gemischten Gefühlen. Die Vorfreude auf seine Aufgabe überwog, doch in sie stahlen sich nach wie vor Bedenken. Erika hatte abwartend reagiert. »Ich verlange nicht viel von dir, nur, dass du dich um mich auch ein bisschen kümmerst«, hatte sie ihm zu verstehen gegeben und es vorerst dabei bewenden lassen. Wie es wirklich in ihr aussah, wusste Leopold nicht.
Frau Heller erinnerte ihn einerseits daran, »dem Moritz« schöne Grüße von ihr auszurichten. Gleichzeitig ersuchte sie ihn, seine Dienstzeiten im Café Heller genau einzuhalten, da der zweite Oberkellner, Waldemar »Waldi« Waldbauer telefonisch bereits angedeutet hatte, dass er nicht gewillt sei, wegen eines Mordes seinen Dienstplan zu ändern. »Und welche Hilfe mir mein Heinrich in letzter Zeit ist, brauche ich Ihnen ja nicht zu sagen«, fügte sie hinzu.
Da schneite plötzlich Sabine Patzak bei der Tür herein. »Servus, Papa«, rief sie, lief auf Leopold zu und drückte ihm einen Kuss auf die Wange.
»Aufpassen, Kinderl, ich hab ein Tablett in der Hand!«, entfuhr es ihm in einer ersten Schrecksekunde. »Was machst du überhaupt da?«
»Ich habe dir doch gesagt, dass ich mich mit dem Gedanken trage, zu studieren. Und jetzt ist es eben so weit«, setzte sie ihm auseinander.
Leopold sah in Sabine gerade in dieser Situation nur eine zusätzliche Belastung. »Hättest du dir nicht einen anderen Zeitpunkt dafür aussuchen können?«, reagierte er deshalb unwirsch.
»Nein, denn jetzt ist die Inskriptionszeit, und die Vorlesungen und Übungen beginnen«, belehrte Sabine ihn sofort.
Leopold machte eine entschuldigende Geste. »Also bei Erika und mir kannst du nicht wohnen, unmöglich. Wir machen derzeit beide gewaltige Überstunden und brauchen unsere Ruhe, wenn wir zu Hause sind. Versteh das bitte!«
»Ich krieg bald meine eigene Wohnung, Papa«, informierte Sabine ihn stolz. »In der Zwischenzeit kann ich bei einer Freundin schlafen.« Dabei setzte sie das unschuldigste Lächeln auf, das sie zusammenbrachte, um ihren Vater nur ja nicht auf den Gedanken zu bringen, sie könnte ihn angeschwindelt haben.
Dem war das im Augenblick jedoch völlig egal. »Gott sei Dank«, atmete er erleichtert auf. »Damit nimmst du mir eine große Sorge ab. Schließlich bin ich für dich verantwortlich. Momentan geht’s wirklich drunter und drüber.«
»Warum bist du eigentlich so gestresst? Ist der andere Ober vielleicht krank?«, erkundigte Sabine sich neugierig.
»Der ist pumperlg’sund«, unterbrach Frau Heller das traute Gespräch zwischen Vater und Tochter. »Aber mein Herr Oberkellner fühlt sich bemüßigt, wieder einmal auf Verbrecherjagd zu gehen. Und damit es so richtig anstrengend wird, arbeitet er dafür in zwei Kaffeehäusern gleichzeitig.«
»Mit polizeilicher Genehmigung und Unterstützung«, betonte Leopold. Dann weihte er Sabine in den aktuellen Fall und seinen Deal mit Oberinspektor Juricek ein.
»Toll, Papa! Darf ich da auch mitmachen?«, war sie sofort Feuer und Flamme.
»Ausgeschlossen! Das ist diesmal viel zu kompliziert. Außerdem brauchst du jetzt deine Zeit fürs Studium«, wehrte Leopold ab.
»Am Anfang muss ich noch nicht so viel lernen«, widersprach sie ihm.
Leopold schaute auf Sabine, dann auf Frau Heller und überlegte kurz. »Töchterl, du kannst mir doch helfen«, stellte er fest. »Du könntest nämlich – das Einverständnis von Frau Sidonie vorausgesetzt – einen Teil meines Dienstes hier im Heller übernehmen. Damit entlastest du mich so weit, dass ich mich meinen kriminalistischen Nachforschungen zur Genüge widmen kann und meine Erika auch noch was von mir hat.«
Mit diesem Überfall auf ihre Zeitreserven hatte Sabine Patzak nicht gerechnet. So weit wollte sie sich ihrem Vater auch wieder nicht verpflichten. Es war ein Unterschied, ob man, wie Sabine es bei ihrem ersten Wienbesuch aus Spaß gemacht hatte, einmal ein paar Stunden im Kaffeehaus mitarbeitete, oder ob man für eine gewisse Dauer ständig zur Verfügung stehen musste. Sie wollte sich als Studentin fühlen, frei und ungebunden. Außerdem gab es noch Thomas Korber. »Ich weiß nicht«, äußerte sie deshalb vorsichtig.
»Also, ich halte das für eine ausgezeichnete Idee«, zeigte sich Frau Heller hingegen sofort begeistert. »Sie sind ja so geschickt, Sabine. Und eine Frohnatur! Die Herzen der Gäste werden Ihnen zufliegen.«
»Komm, gib dir einen Stoß! Ich mische mich dafür diesmal überhaupt nicht in dein Privatleben ein«, bat Leopold.
»Na schön! Darf ich dir bei der Verbrechensaufklärung auch wieder helfen?«, legte Sabine noch ein Schäuferl nach.
»Wenn’s unbedingt sein muss«, seufzte Leopold.
Damit war der Handel abgeschlossen. Frau Heller lächelte